Autorschaft und Datierung der Wolfenbütteler Postille

 

 

 

 

 

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f. 60r

Cod. Guelf. 11. 2 Aug. 2°

Der auf Deutsch geschriebene Satz Johannes Bielauks am Ende des ersten Teils "Jn 3 woch[en] 2 tag[en] durch Gottes hulf ausgeschrieb[en]. // A[nn]o 73 den 2 Septembris." (f. 150v,27-28) zeugt davon, dass die Predigten des Zyklus Advent-Ostern am 2. September 1573 im Zeitraum von 3 Wochen und 2 Tagen "ausgeschrieben" wurden. Die anonyme Postille ist die von Johannes Bielauk stammende Abschrift eines älteren Textes. Als Abschreiber erhob er keinen Anspruch auf die Autorschaft und hinterließ seinen Namen nicht im Manuskript. Seine Kommentare beziehen sich auf Verschreibungen im Primärtext, die Bielauk getreu abschreibt und zu denen er in Klammern eigene Vorschläge gibt, die er auf Deutsch einführt, z. B. "heißt billig" (f. 39v,28-29), "glaube ich sei besser" (f. 55v,9-10).

Die von einer Abschrift zeugenden Besonderheiten sind Fälle von Parablepsis: Zwei gleich oder ähnlich anfangende (homoiarchon) oder endende (homoioteleuton) Sätze bzw. Zeilen des Primärtextes werden leicht verwechselt, weil die Augen des Schreibers zwischen dem Originaltext und der Abschrift hin- und herwandern und sich deswegen automatisch auf gleich aussehendene Wörter fixieren. Die Parablepsis verursacht fehlerhafte Aussagen. Ein markantes Beispiel dafür ist der Satz 60r,17-19, in dem zwei gleich endende Sätze über die göttlichen und menschlichen Besonderheiten Christus' in einem Satz verknüpft sind (Erklärung zum Lk 2,52). Der Satz ergibt so einen theologischen Irrtum, der in einem Kommentar als "absurdum" bezeichnet wird.


Auf Blatt 60r, neben dem Haupttext, sieht man zwei weitere Autographen. Die auf die Quelle dieser Predigt hinweisende Inschrift "Ex Hemingij postilla" stammt von dem Pfarrer von Szitkehmen, Michael Sappun (lit. Mykolas Sapunas, ca. 1553 - 1630), der seinen Namen auf dem Titelblatt hinterließ. Der sachliche Kommentar zu dem fehlerhaften Satz stammt von dem Pfarrer von Kraupischken und später von Tilsit, Patroclus Welver (lit. Patroklas Velveris, ca. 1555 - 1598). Kommentare und Verbesserungen in der Handschrift sind auf drei Sprachen - Latein, Deutsch und Litauisch - eingefügt. Nach dem Charakter der vielfältigen Korrekturen lässt sich feststellen, dass Welver die Handschrift früher als Sappun besaß bzw. für seine Predigten benutzte.

Neben den im Text selbst erwähnten Jahreszahlen (1547 [f. 6r,32], 1561 [f. 6v,1, f. 263r,33], 1563 [f. 7r,7]) und den Ersteditionen der Quellentexte kann die Reihenfolge der Predigten in der Postille Aufschluss über den terminus a quo des Primärtextes geben. Im Adventszyklus steht die Predigt Mariae Lichtmeß (2. Februar) zwischen den Predigten zum dritten und vierten Sonntag nach Epiphanias. Im Jahr 1566 fiel der 2. Februar zwischen diese beiden Sonntage, also zwischen den 27. Januar und den 3. Februar. Die Predigt Annunciatio Mariae (25. März) findet sich in der Postille zwischen den Predigten Laetare und Iudica. Ebenfalls im Jahr 1566 fiel der 25. März zwischen die Sonntage Laetare (24. März) und Iudica (31. März). Aus dieser Konstellation lässt sich schließen, dass der erste Teil für den Zyklus Advent-Ostern 1565 - 1566 angefertigt wurde.
Es ist allerdings nicht klar, ob die Wolfenbütteler Postille die erste Abschrift des Primärtextes ist.




 
 

 

© Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel 2003