03. Juni 2020

Die Kraft kaum sichtbarer Teilchen

Die Natur hält Phänomene bereit, die sich unserer unmittelbaren Sichtbarkeit entziehen. Die seuchen- und epidemieerfahrenen Gesellschaften der Frühen Neuzeit wussten nur zu gut, dass der Tod oft unbemerkt und erst zu spät erkannt unter den Menschen wandelt. Die verschiedenen Korpuskular-, Effluvien-, und Miasmentheorien, die im Verlauf des 17. Jahrhunderts durch gelehrte Akteure wie Robert Boyle (1627‒1691) und zahlreiche andere in Auseinandersetzung mit der aristotelischen Philosophie formuliert worden waren, sollten jedoch zu virulenten Diskursen führen über die Frage, was Ansteckungen waren und vor allem: wie sich Krankheiten durch diese eigentlich verbreiteten.

Effluvien: Alles strömt durch die Luft

Diese Fragen riefen auch die Physik- und Medizinprofessoren der Academia Julia in Helmstedt (1576‒1810), der damaligen Landesuniversität des Herzogtums Braunschweig-Lüneburg, auf den Plan. Im März 1681 wurde dort aus gegebenem Anlass – die Pestausbrüche von Wien (1679), Leipzig (1680) und Wolfenbüttel (1681) lagen noch in der Luft – eine Disputation abgehalten. Der Physikprofessor Justus Cellarius (1649‒1689) und der Student und bekannte spätere Seuchenarzt Conrad Barthold Behrens (1660‒1736), später auch Leibarzt Herzog Anton Ulrichs (1633‒1714), veröffentlichten diese noch im selben Jahr unter folgendem Titel: Physikalische Disputation über die durchdringende Kraft der Effluvien in ihren Wirkungen auf tierische Körper (Disputatio physica de penetrabili efficacia effluviorum in afficiendis corporibus animalium). Der Kernbegriff, die „Effluvien“ (effluvia, wörtl. „Ausströmungen“), zeigt bereits, wie sich die Helmstedter Gelehrten das Phänomen der Ansteckung erklärten: Kleinste, ähnlich wie in einem Wasserkreislauf durch die Luft strömende Körperchen seien die Auslöser der Krankheiten. Diese Teilchen hatte zuvor auch der  berühmte englische Naturforscher und experimentelle Chemiker Robert Boyle in seiner Abhandlung De mira subtilitate effluviorum beschrieben. Die Effluvien seien, so Cellarius und Behrens, zudem mit Aristoteles vereinbar, der bereits davon gesprochen hatte, dass Erde und Wasser solche körperhaften Ausdünstungen produzierten. Es ging aber noch genauer, wie Robert Boyle, Kenelm Digby (1603‒1665) und andere festgestellt hätten: Denn auch an Magneten und Gerüchen ließe sich sehen, dass Körper Effluvien in die Luft ausstoßen und diesen Eigenschaften von sich mitgaben. Wie sonst könnten Tiere auf der Jagd oder während der Brunft, wie etwa Giovanni Alfonso Borelli (1608‒1679) und wiederum Boyle plausibel gemacht hatten, sich mit Hilfe des Windes über so weite Distanzen wittern, wenn nicht über diese ausgestoßenen Effluvien?

Subtile und alles durchdringende Miasmen

Wenn manche Gerüche gar nahrhaft und Pestilenzen sogar riechbar zu sein schienen, mussten schadhafte Effluvien (auch miasmata, von griech. μιαίνω = “beflecken, beschmutzen“), wie Cellarius und Behrens folgern, natürlich eine ungeheure Gefahr bergen: die Ansteckung mit tödlichen Krankheiten. Wo Gerüche Übelkeit hervorriefen und Tiere Tollwut ohne direkten Kontakt übertragen konnten, da sei nicht zuletzt auch mit Helmstedter Ärzten wie Heinrich Meibom (1638‒1700) und Valentin Heinrich Vogler (1622‒1677) davon auszugehen, dass auch die Pest sich durch Effluvien übertrage und über die Poren mit ihrer fermentierenden Kraft in den menschlichen Körper gelangten. Diese hielten sich, so warnen Cellarius und Behrens eindrücklich, auch auf unbelebtem Material ungemein lang. Degen, Tapeten, Haushaltsutensilien jeglicher Art, ja sogar Spinnweben und Geld: all das könne, wie berühmte Pestärzte wie Isbrand van Diemerbroeck (1609‒1674) doch gezeigt hätten, durch das virus (der keinesfalls mit unserem heutigen Begriff identisch ist!) kontaminiert werden und dort oft für Monate – selbst vergraben unter Schnee und Erde – den Tod bereithalten. Ob es sich dabei aber, wie der Jesuit Athanasius Kircher (1602‒1680) in seinem Scrutinium physico-medicum contagiosae luis, quae pestis dicitur vermutet hatte, auch um eine winzige Art Würmer (vermiculi) handeln könnte, bezweifelten Cellarius und Behrens jedoch, seien diese doch eher Produkt als Ursache der Ansteckung. Wie der berühmte Helmstedter Arzt Hermann Conring (1606‒1681) in seiner Disputatio inauguralis medica de peste bereits moniert hätte, sei per Mikroskop bislang doch nicht erwiesen, ob solche belebten Pest-Körperchen (animata ista pestis seminaria), wie Kircher meinte, sich auch wirklich wie unbelebte, giftige Effluvien (venenata effluvia) strömend durch die Luft bewegten.

Ansteckende Theorien

Im 17. Jahrhundert, so ließe sich das hier Präsentierte historisieren, gab es selbstredend noch keine trennscharfen Begriffe, die etwa zwischen viralen oder bakteriellen Infektionen hätten unterscheiden können; geschweige, dass sich hier – das wäre mehr als irreführend – etwa von Vorläufern moderner Konzeptionen fabulieren ließe. Jedoch: Als Justus Cellarius 1689 mit 40 Jahren an einer heftigen Ruhr verstarb, wird auch ihm auf seinem Sterbebett bewusst geworden sein, dass er in der einen oder anderen Weise einer Ansteckung zum Opfer gefallen ist, wie sie zuvor von ihm beschrieben worden war. Was diese Disputation von 1681 so besonders macht, ist weniger, worauf sie in äußerst unbestimmter Weise vorausgewiesen haben mochte, sondern vielmehr, wovon sie sich tatsächlich zu lösen begann: Angesteckt durch die diversen zeitgenössischen Korpuskular-, Effluvien- und Miasmentheorien nämlich, besonders der, die Robert Boyle zwischen 1660 und 1680 in diversen seiner Schriften aus atomistischen, cartesianischen und aristotelischen Philosophemen entwickelt hatte, machte sich die Universität Helmstedt am Ende des 17. Jahrhunderts eigenmächtig daran, dem von ihr hochgerühmten Aristoteles – zumindest in der Naturphilosophie – nicht allein den unumschränkten Thron zu überlassen.

 

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Der Autor

Benjamin Wallura ist (neu)lateinsicher Philologe und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und der Universität Jyväskylä, Finnland. Seine Forschungsschwerpunkte sind frühneuzeitliche Debatten- und Gelehrtenkulturen sowie die mittel- und nordeuropäische Universitätsgeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts.

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