13. Januar 2021

Das von der Polonsky Foundation geförderte Projekt hat zum Ziel, die Sammlungen mittelalterlicher lateinischer und deutscher Handschriften aus hauptsächlich norddeutschen Kloster- und Stiftsbibliotheken für die Forschung und Nachnutzung bereitzustellen. Seit Projektbeginn im Dezember 2018 wurden an der HAB bereits 205 Handschriften digitalisiert und können auf der Homepage des Projekts angesehen werden.

Die Tatsache, dass es sich unter all den hauptsächlich von Männerhand geschriebenen Handschriften in diesem Fall um Bücher von Schreiberinnen handelt, ist lediglich einer von vielen Aspekten, die die Lamspringer Sammlung mit ihren 23 Bänden so außergewöhnlich machen. Zu bieten haben diese mittelalterlichen Werke darüber hinaus eindrucksvollen Buchschmuck, womit sie aus kunsthistorischer Sicht eine überaus reizvolle Gruppe illuminierter Handschriften bilden. Für das Digitalisierungsprojekt wurden 16 Kodizes ausgewählt, die dieser Beitrag in Bezug auf ausgesuchte Merkmale etwas genauer unter die Lupe nimmt. Zwölf davon sind augenblicklich bereits online zu erkunden.

Um 850 von Graf Ricdag und dessen Frau Emhild ursprünglich als Kanonissenstift – ein eher weltliches und damit freieres Modell des Zusammenlebens – im Süden der Diözese Hildesheim gegründet, unterstand das um 1130 zur Benediktinerinnenabtei umgewandelte Kloster nicht nur der geistlichen, sondern auch der wirtschaftlichen und politischen Obhut der Hildesheimer Bischöfe. Es galt im 14. Jahrhundert als eines der wohlhabendsten und bestausgestattetsten Klöster im niedersächsischen Raum. Der Bestand von 23 Handschriften (davon 20 Bände mit theologischen Schriften und drei liturgische Werke) veranschaulicht, dass es sich bei den Schreiberinnen und Illustratorinnen um Ordensschwestern handelte, deren sprachliche und theologische Bildung der von Mönchen aus den bislang besser erforschten männlichen Orden in nichts nachstand. Außerdem wird hier einmal mehr deutlich, dass sowohl die Schreibstube (das sog. Skriptorium, von lat. scribere – schreiben) als auch die Bibliothek, die die entstandenen Werke sammelte, bereitstellte und verwahrte, die Institution Kloster stark prägten und auszeichneten.

Bis zur Entwicklung des Buchdrucks durch Johannes Gutenberg Mitte des 15. Jahrhunderts fungierte nicht Papier, sondern das in seiner Beschaffenheit robustere Pergament als Schriftträger. Dessen Herstellung war aufwendig und bedeutete schwere körperliche Anstrengung: Im deutschsprachigen Raum wurden vorwiegend Häute von Kälbern, in wenigen Fällen von Schafen verwendet, die zuerst in Spannrahmen fixiert, abgeschabt und schließlich gekalkt wurden, um ein Verlaufen der Tinte und Farben im Schreibprozess zu verhindern. Die passend zugeschnittenen und gefalteten Pergamentbögen wurden zu Lagen zusammengeheftet, liniert, beschrieben und später zu einem Buch zusammengebunden.

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Abb. 1: Ganzseitige Miniatur eines Schreibers an seinem Pult, der seine Schreibfeder schärft, bevor er den Text auf das bereits linierte Doppelblatt kopiert (Cod. Guelf. 1030 Helmst., fol. 1v, 1151–1175)

Schreiberin, Rubrikatorin und Illustratorin, also Gestalterin der dekorativen Initialen und allen weiteren Buchschmucks, konnte ein und dieselbe Person sein. Für den Buchschmuck wie Initialen oder Miniaturen ließen die Schreiberinnen beim Übertragen der Textvorlage auf die zusammengehefteten Pergamentlagen etwas Platz, der jedoch nicht selten übersehen wurde und damit leer blieb. Neben mindestens 28 Schreiberinnen, die Kenner*innen für den Zeitraum von 1170 bis 1204 unterscheiden können, sind für das 12. Jahrhundert zwei Schreiberinnen sogar namentlich bekannt: Odelgarde und Ermengarde. Laut eines Kolophons (Schreibervermerk) gab es zudem eine dritte scriptrix (Schreiberin). Stiltechnisch lassen sich ihre Schriften in die Übergangsphase von der (späten) karolingischen zur frühen gotischen Minuskel einordnen, womit das Schriftbild insgesamt kantiger, spitzer und rechteckiger wirkt und sich der Raum zwischen den einzelnen Buchstaben innerhalb eines Wortes merklich verringert.

Mit Blick auf den Buchschmuck lässt sich festhalten, dass die Lamspringer Nonnen sorgfältig und mit einiger Liebe zu ornamentalem Detail arbeiteten. So finden sich in den Pergamentkodizes zahlreiche größere zoomorphe und figurative Initialen, die in (Fantasie-) Tierköpfe, -körper oder florale Elemente auslaufen.

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Abb. 2: Zoomorphe S-Initiale zu Beginn der Moralia in Hiob von Papst Gregor dem Großen in Cod. Guelf. 443 Helmst., fol. 2r, 1176–1200

Die Buchstabenschäfte und –enden der Initialen sind häufig mit Halbpalmetten verziert. Die Abstriche der Q-Initialen bestehen wiederholt aus Körpern von Drachen, die Blattranken speien und/oder deren Schwänze in eben solchen enden, wie es in Cod. Guelf. 510 Helmst., fol. 133r sowie relativ farbenfroh in Cod. Guelf. 443 Helmst., fol. 2r der Fall ist.

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Abb. 3: Figurative und zoomorphe Q-Initiale mit Drachenkörper, in der der Heilige Geist acht Heiligen als Taube erscheint (Cod. Guelf. 510 Helmst., fol. 133r, 1151–1175)

Rot, Grün und Blau sind die vorwiegend verwendeten Farben, wie es ebenfalls in der figürlichen Darstellung des heiligen Augustinus (354–430) zu sehen ist (Abb. 4): Ausgestattet mit Mitra und Bischofsstab auf einer Art Thron sitzend präsentiert er der Leserschaft eine aufgeschlagene Doppelseite (lat. bifolium) mit den Worten Pater noster – dem Vaterunser. Sowohl das Ornat des Kirchenvaters als auch der Vorhang, vor dem er sitzt, sind mit einem Faltenwurf ausgestaltet, letzterer ist sogar zudem mit einem roten Dreipunktmuster versehen.

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Abb. 4: Augustinus thront in der Q-Initiale mit dem aufgeschlagenen lateinischen Vaterunser (Cod. Guelf. 204 Helmst., fol. 3v, 1176–1200) Fotografie von Dr. Stefanie Westphal

Daran erinnert die Darstellung Papst Gregors (540–604) im Bogen der P-Initiale (Abb. 5), die der des Augustinus stilistisch und farblich sehr ähnelt und womöglich von derselben Illustratorin ausgestaltet wurde. Auch der Text könnte dem Schriftbild nach zu urteilen von derselben Schreiberin stammen, wie wir sie in 204 Helmst. vor Augen haben.

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Abb. 5: Der Heilige Geist inspiriert Papst Gregor I. in Gestalt einer Taube (903 Helmst., fol. 75v, Beginn 4. Viertel 12. Jh.) Fotografie von Dr. Stefanie Westphal

Es ist festzuhalten, dass das hochmittelalterliche Benediktinerinnenkloster in Lamspringe über ein ausgesprochen kreatives Skriptorium verfügte. Im Zuge der Reformation wurden die Klöster und deren Bibliotheken aufgelöst, und oft bleibt ungewiss, welchen Weg die Bücher einschlugen. Im Fall des Lamspringer Handschriftencorpus sorgte Herzog Julius von Braunschweig-Lüneburg im Jahr 1572 dafür, dass die 23 Handschriften Teil seiner Sammlung in der Wolfenbütteler Residenz wurden. Damit sind sie uns noch heute erhalten, um sie weiter zu erforschen.

 

PURL: http://diglib.hab.de/?link=151

 


Wenn Sie mehr zum Thema erfahren möchten:

Die Buchmalerei der Lamspringer Nonnen wird derzeit in einem Katalogisierungsprojekt zu den illuminierten Handschriften der Herzog August Bibliothek von Dr. Stefanie Westphal erschlossen.

Weiterführende Literatur:

  • Helmar Härtel (Hrsg.), Geschrieben und gemalt. Gelehrte Bücher aus Frauenhand: Eine Klosterbibliothek sächsischer Benediktinerinnen des 12. Jahrhunderts (Wolfenbütteler Ausstellungskatalog 86), Wolfenbüttel 2006.
  • —, „Gelehrte Bräute Christi. Zur Umstrukturierung der Frauenklöster im Hochmittelalter: Ein neues Ideal geistig-geistlichen Lebens,“ in: Die gelehrten Bräute Christi. Geistesleben und Bücher der Nonnen im Mittelalter, hrsg. von Helwig Schmidt-Glintzer (Wolfenbütteler Hefte 22), Wiesbaden 2008, 7–13.

 

Weitere Blogbeiträge zum Projekt „Handschriften aus dem deutschen Sprachraum“ sowie zur Erstellung mittelalterlicher Handschriften:


Die Autorin

Irina Rau