10. März 2021

Es war eine internationale Zusammenkunft mit dem sperrigen Titel „Washingtoner Konferenz über Vermögenswerte aus der Zeit des Holocaust“, die im Dezember 1998 nach Jahren von Schweigen und stiller Geschäftigkeit den Startpunkt einer intensivierten Suche nach bislang noch unentdecktem NS-Raubgut in Kultureinrichtungen auf der ganzen Welt markierte. In ihrem als „Washingtoner Erklärung“ bekannt gewordenen Abschlusspapier appellierten Vertreter*innen von mehr als 50 Staaten und Nichtregierungsorganisationen an die Verantwortlichen in staatlichen Verwaltungen wie auch in Museen, Archiven und Bibliotheken, ihre Sammlungen und Dokumentenbestände auf etwaige NS-Raubgut-Sachverhalte zu durchleuchten. Wo immer möglich, sollte vonseiten der Institutionen ein fairer und gerechter Ausgleich mit den ursprünglichen Eigentümer*innen oder ihren Nachfahr*innen gesucht werden.

Dieser Anstoß wurde in der politischen und kulturellen Öffentlichkeit mit großem Engagement aufgenommen. In Anerkennung der besonderen historischen und moralischen Verantwortung von Sammlungsinstitutionen in Deutschland formulierten Bundesregierung, Länder und kommunale Spitzenverbände eine bindende Selbstverpflichtung. Die „Gemeinsame Erklärung zur Rückgabe NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturgutes“ (1999) konstituiert ein konkretes Bekenntnis, die Erforschung der Herkunft von Sammlungen zu fördern, NS-Raubgut in den eigenen Beständen aufzufinden und dieses zu restituieren. Dieser Aufgabe stellt sich nun auch die HAB.

In der Praxis einer Sammlungseinrichtung bedeutet das intensive Recherchearbeit: Berge von Akten und Korrespondenzen, Zugangsverzeichnisse und nicht zuletzt die Objekte selbst müssen gesichtet und ausgewertet werden. Denn oft geben erst sie selbst wertvolle Informationen über ihre Herkunft und ihr Schicksal während der NS-Zeit preis. Im Fokus der Forschungsaufgabe, der sich die HAB im Rahmen eines vom Deutschen Zentrum Kulturgutverluste geförderten Projekts verschrieben hat, stehen die hinsichtlich ihrer jüngeren Provenienzen noch kaum untersuchten antiquarischen Erwerbungen seit den 1960er-Jahren. 75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist hierbei inzwischen eine lange Besitzhistorie zu überbrücken. Ketten von fünf und mehr Vorbesitzer*innen allein im 20. Jahrhundert sind keine Seltenheit.

Auf die Betroffenen des NS-Kulturgutraubs verweisen in vielen Fällen nur noch kleine Hinweise in den einzelnen Bänden. Diese aufzufinden und mit historischen Personen oder Institutionen in Verbindung zu bringen, ist oft ein Akt von Kombination und Kriminalistik (so der Titel eines Forschungsbeitrags zum Thema von Ragnhild Rabius aus dem Jahr 2004). Denn durch geduldige Erfassungsarbeit und detektivischen Spürsinn können selbst gewaltsam zum Schweigen gebrachte Bücher noch zu Zeugen ihrer Geschichte werden. So etwa im Fall eines Bandes aus der ehemaligen Landesbibliothek Posen, in deren Besitzstempel der belastende Ortsname mit Flüssigkeit und einem scharfen Gegenstand unleserlich gemacht worden war.

Zerstörter Stempel der ehemaligen Landesbibliothek Posen
Zerstörter Stempel der ehemaligen Landesbibliothek Posen (in HAB: Xb 7235)

Ihn konnte das Projektteam durch den Abgleich mit zahllosen Stempelproben vergleichbarer Institutionen identifizieren und so den Band zum Sprechen bringen. Noch keine Hinweise gibt es dagegen zu den Eigentümer*innen eines zerstörten Exlibris in einem Band aus dem Jahr 1607 (s. Titelbild).

Licht in diese und ähnliche Zusammenhänge zu bringen, hat sich die HAB für die kommenden zwei Jahre vorgenommen. Ca. 30.000 Bände, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und besonders ab den 1990er-Jahren teils einzeln, teils im Rahmen geschlossener Sammlungen erworben wurden, sollen systematisch erfasst und auf ihre Herkunft und ihren Verbleib während der NS-Zeit hin untersucht werden. Am Ende erhoffen sich die Projektverantwortlichen ein klareres Bild über den antiquarisch erworbenen Bestand der HAB und wertvolle neue Daten für die Provenienzforschung. Identifizierte Fälle von NS-Raubgut sollen öffentlich gemacht und im Rahmen der jeweiligen Möglichkeiten an die ursprünglichen Anspruchsberechtigten restituiert werden.

 

PURL: http://diglib.hab.de/?link=148

 


Das zweijährige Projekt NS-Raubgut unter den antiquarischen Erwerbungen der Herzog August Bibliothek seit 1969 wird durch das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste gefördert. Die Rechercheergebnisse werden im Rahmen des lokalen Bibliothekskatalogs bzw. des Verbundkatalogs sowie – bei erhärtetem NS-Raubgut-Verdacht – in der Objektdatenbank Lost Art und der Forschungsdatenbank Proveana des Deutschen Zentrums Kulturgutverluste dokumentiert.


 

Die Autorin

Christine Rüth ist Philologin und Fachreferentin für Altertumswissenschaften an der Universitätsbibliothek Freiburg. Zwischen 2020 und 2023 war sie als Wissenschaftliche Mitarbeiterin in den Projekten „NS-Raubgut unter den antiquarischen Erwerbungen der Herzog August Bibliothek seit 1969“ und „NS-Raubgut unter den Zugängen der Herzog August Bibliothek 1933–1969“ an der Herzog August Bibliothek.

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