08. April 2020

Die editierten und kritisch kommentierten Dramen sind Zeugnis davon, wie im Zuge der Einführung des Protestantismus bzw. dessen Bekämpfung im 16. und 17. Jahrhundert das Thema des aufopfernden Todes für den rechten Glauben auf die Bühne gebracht wurde.

Im 6. Band präsentiert die Herausgeberin Karolin Freund das Drama „Chrysantus und Daria“. Den beiden Patronen von Münstereifel widmete Hilger Gartzwiller, Dekan am Kollegiatsstift zu Münstereifel, ein Schauspiel, das 1606 in der dortigen Stiftskirche aufgeführt wurde. Als katholisches Drama setzt es deutlich andere Akzente als die protestantischen Dramen der Reihe. Chrysantus tritt zu Beginn mit der Bibel auf und gesteht: „Hab mir nötig ein Christen Man / Der woll diß Buch außlegen khan“ (V. 415f.). Erst nach einer Einführung in die Bibelexegese kann er nun die rechte Lehre verbreiten. Dazu gehört auch ein keusches Leben, und dieses schützt Gott durch Wunder, die auf der Bühne sichtbar sind. Auch die mehrfachen Versuche, die beiden Megalomärtyrer zu töten, werden offen gezeigt. Das Spiel steht deutlich im Kontext einer Frömmigkeit, die das Schauen des Heiligen ins Zentrum stellt. Am Ende werden die beiden Heiligen von singenden Engeln aus dem Grab geholt und als „hostia vivens“ (V. 3251b) zu Gott geführt. Der Epilog setzt den letzten katholischen Akzent und fordert zu Gottesfurcht und Gehorsam auf.

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Bd. 6: Hilger Gartzwiller: Chrysantus und Daria

Katholische nichtjesuitische Märtyrerspiele waren in Deutschland (anders als in der Schweiz) selten; das Thema „Märtyrer“ interessierte vor allem lutherische Gemeinden, die sich mit der von Rom verfolgten Urkirche identifizierten. Zur Aufführung kamen die Märtyrerdramen sowohl im Umkreis lutherischer Fürstenhäuser als auch, vor allem ab 1555, in Reichs- und Hansestädten, wo durch den Augsburger Religionsfrieden das Zusammenleben der Konfessionen gesichert, der konfessionelle Gegner also sicht- und ansprechbar war.

Weniger gegen die römische Kirche allerdings verwehrte sich Melchior Neukirch, Pastor in Braunschweig, in seinem „Stephanus“ (1591); seine Hauptgegner waren die Kryptocalvinisten, die in den 1580er-Jahren die Bürgerschaft spalteten. Mit seinem Stück wollte er der lutherischen Geistlichkeit von Braunschweig den Rücken stärken. Folgerichtig greift das Drama, das mehrfach die Einheit der christlichen Urgemeinde beschwört, auch in den gesamten Stadtraum aus. Im vierten Akt heißt es: Wer das „Spiel“ sehen wolle, wie die Pfaffen getötet werden, „der folge geschwind / Zum Marckt hinzu“ (V. 3503f.). Gemeinsam zogen die (ausschließlich männlichen) Darsteller und die zuschauende Bürgerschaft wohl von der Petrikirche zum Altstadtmarkt. Durch die Prozession mit den Aposteln und Stephanus demonstrierte das Publikum seine Zugehörigkeit zur Urgemeinde. Am neuen Spielort wird Stephanus zunehmend als Abbild Christi präsentiert. Er stirbt an der offiziellen Richtstätte der Stadt mit Blick auf den bereits geöffneten Himmel, der durch die lutherische Martinikirche repräsentiert ist.

Lutherische Märtyrerdramen schrecken auch nicht vor legendarischen Heiligen zurück. Balthasar Thamm führte 1594 seine „Dorothea“ im Altenburger Schloss auf, zu Ehren von Dorothea Maria von Anhalt. Deren Bildungsprogramm ist im Stück vorbildlich umgesetzt: Die Heilige vermittelt einer Schar von Schülerinnen Luthers Katechismus und erregt gerade dadurch Anstoß. Ihre stoische, fast unbewegte Art ruft bei den Höllenmächten Aggressionen hervor; nur ein einziges Mal reagiert sie kurz wütend: wenn eine Kupplerin meint, sie (ähnlich wie Satan Christus in der Wüste) verführen zu können. Natürlich stirbt sie mit den Worten Christi auf den Lippen. Heilige, die nach ihrem Tod Wunder wirken, widersprechen dem lutherischen Heiligenverständnis. Dorotheas Attribut und Erkennungszeichen aber sind Rosen, welche sie nach ihrem Tod aus dem Himmel an ihren Peiniger gesandt haben soll. Thamm konnte das Rosenwunder nicht auslassen und deutet es daher als ein Wunder Christi um. Als Reaktion auf dieses Wunder lässt er das „Volk“ (mit dem sich freilich auch Thamms adeliges Publikum identifizieren soll) beschließen, den Götzendienst abzuschaffen. Man wolle „nur trawen auff Jesum Christ / Welcher der rechte Helffer ist“ (V. 2930f.) – also gerade nicht auf die Fürbitte von Heiligen.

Eine noch ungewöhnlichere protestantische Heilige ist Catharina, Protagonistin eines lateinischen Spiels, das der Philologe Wolfgang Waldung 1602 anlässlich des 25. Jubiläums der Academia Altdorfina von Studenten aufführen ließ. Catharina, Patronin Nürnbergs und der Artistenfakultät, bot sich vor allem mit Blick auf das Thema der Jubiläumsreden an: Es ging um Anfeindungen gegen die nach Weisheit Strebenden. Waldung vermeidet jede Nähe zu jesuitischen Katharinendramen und folgt stattdessen einer humanistischen Vorlage. Von dieser übernimmt er den antiken Götterhimmel. Dieser und eine Vielzahl historischer Exempel aus der Antike unterstreichen den gelehrten Charakter des Dramas über eine gelehrte Heilige, die im Disputationswettstreit die paganen Philosophen besiegt und diese zu Gottes Wort bekehrt. Den Inhalt des theologischen Gesprächs erfährt der Zuschauer nur aus dem Gedächtnisreferat anderer Figuren: Sie nennen die Kernsätze lutherischer Lehre.

Die protestantischen Märtyrerdramen charakterisiert eine Betonung der durch ihre Schlichtheit bestechenden Lehre und der Verkündigung des „reinen“ Wortes Gottes, das aus sich heraus verständlich ist (sola scriptura). Trotz der statischen Haltung der lehrenden und predigenden Heiligen sind die Stücke keineswegs undramatisch; den aktiven Part übernehmen die Kräfte des Bösen. Von diesen bedroht, nehmen die Heiligen ihr Kreuz auf sich und präsentieren eine extreme Christus-Bezogenheit bis in den Tod. Die katholischen Dramen dagegen präsentieren lernende Heilige, für die das rechte Verständnis des Worts und das rechte Leben eine Einheit bilden. Die Spiele setzen auf sichtbare Effekte, sie zitieren die Sakramente als evidente Formen der Heilsvermittlung, und sie präsentieren Wunder, die im Leben die Begünstigung der Heiligen durch Gott und nach dem Tod deren Präsenz und heilsvermittelnde Funktion für die Menschen bestätigen.

Das Projekt zu Inszenierungen von Heiligkeit im Kontext der konfessionellen Auseinandersetzungen, das seit 2014 von der DFG gefördert wird, entwickelte Cora Dietl während eines Aufenthalts an der HAB im Sommer 2012. Mit Julia Gold, Karolin Freund, Verena Linseis und Björn Reich untersucht sie, wie deutsche und schweizerische Märtyrerdramen des 16. und frühen 17. Jh. theatrale und literarische Strategien der Überzeugung und der Polemik einsetzen und wie sie auf lokale Gegebenheiten reagieren. Das Werk wird mit „Jacobus und Petrus“ von Arnold Quiting (1593) und „Felicitas“ von Mathaeus Steffan (Stessan, 1589) im siebten und achten Band seinen Abschluss finden. Weitere Informationen zu den im Hausverlag bereits publizierten Bänden finden Sie hier.

 

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Die Autorin

Prof. Dr. Cora Dietl hat eine Professur für Deutsche Literaturgeschichte (Schwerpunkt Mittelalter / Frühe Neuzeit) an der Justus-Liebig-Universität Gießen inne. Schwerpunktmäßig forscht sie zum Theater des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit, zur Artusepik des Hoch- und Spätmittelalters sowie zur dt. Regionalliteratur des Mittelalters im östlichen Europa. Sie ist korrespondierendes Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und stellvertretende Vorsitzende des Philosophischen Fakultätentags.

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