Um die Mitte des 15. Jahrhunderts vollzog sich in niedersächsischen Frauenkonventen der Regionen Lüneburg und Braunschweig eine umfassende Reform, die zu Veränderungen im spirituellen Leben der Nonnen führte. Greifbare materielle Spuren hat das Frömmigkeitsleben in der Gestalt von handgeschriebenen, oftmals illustrierten Gebetbüchern hinterlassen. Diese Bücher dienten dem persönlichen, außerliturgischen Gebet. Sie befanden sich nicht nur im Besitz und Gebrauch einzelner Klosterfrauen, sondern wurden auch von ihnen selbst hergestellt. Als Gebetbücher für die private Nutzung waren sie nicht so sehr expliziten Normen ausgesetzt, wie das bei liturgischen Büchern üblich ist; gerade die begrenzte Normierung kann Einblicke in die konkrete, alltägliche Gebetspraxis eröffnen. Eine beträchtliche Anzahl solcher Gebetbücher hat sich erhalten, ca. 40-50 von ihnen sollen untersucht werden.

Konkrete Ansätze zur Erforschung der klösterlichen Buchkultur, Frömmigkeit und Kunst nach der Klosterreform ergeben sich aus der Unterscheidung von zwei materialästhetischen Typen, die sich in der Herstellung und im Erscheinungsbild der Gebetsbücher beobachten lassen. So wurden im Kloster Medingen bei Lüneburg viele Bücher vollständig neu geschaffen und mit neuen Bildentwürfen üppig illuminiert. Weniger aufwändig gestaltete sich die Produktion neuer Gebetbücher in Klöstern der Region um Braunschweig: Bereits vorhandene Lagen und Blätter wurden neu zusammengebunden und nur punktuell mit Bildern versehen. Im Vergleich zu den ästhetisch ansprechenderen Handschriften in Medingen bieten die Sammelhandschriften z. B. aus Steterburg oder Heiningen die zusätzliche Möglichkeit, durch Einbringung bereits bestehender und vielleicht bereits vielbenutzter Teile eine bestimmte Tradition, womöglich auch eine Memoria, in neuem Kontext weiter zu pflegen. Beide Herstellungsweisen und ihr Ergebnis lassen sich als spezifische Formen der materiellen Umsetzung der Klosterreform verstehen. Eine vertiefende Einsicht in die Frömmigkeitspraxis der Nonnen verspricht die sorgfältige Untersuchung verschiedenartiger (taktiler) Gebrauchsspuren, Annotationen und Ergänzungen in den fertiggestellten Gebetbüchern. Diese Gebetsspuren können Aufschluss darüber geben, wie beliebt bestimmte Gebete gewesen sind und welche Rolle Layout und bildliche Darstellungen beim persönlichen Gebet der Nonnen spielten.

Das Projekt versteht sich als Beitrag zu Bild-, Medien-, Frömmigkeits- und Buchgeschichte.

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Finanzierung: Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG)
Laufzeit: März 2019 – Februar 2022
Projektbeteiligte: PD Dr. Gia Toussaint (Bearbeiterin)