15. Dezember 2021

Im Januar 2022 sind es 60 Jahre, seitdem an der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel die erste gemeinsame Tagung der Handschriftenbibliothekare Deutschlands stattfand. Der damalige Direktor, Erhart Kästner, war stolz darauf, die „bislang schlafende Bibliothek … in das lebendige und tätige Zusammenspiel“ der großen Bibliotheken zurückzubringen. Sein Stellvertreter Hans Butzmann katalogisierte damals die mittelalterlichen Weißenburger und die überwiegend frühneuzeitlichen Blankenburger Handschriften, zu denen er 1964 und 1966 zwei Katalogbände vorlegen konnte. Aus dem Treffen im Jahr 1962 ging ein Band „Zur Katalogisierung mittelalterlicher und neuerer Handschriften“ hervor, der für die Erschließung der Handschriftenbestände in Deutschland wegweisend wurde und aus dem letztlich die bis heute verbindlichen „Richtlinien Handschriftenkatalogisierung“ der DFG resultierten.

In den 1970er Jahren wurde die Erschließung der mittelalterlichen Handschriften in Niedersachsen Aufgabe einer eigens eingerichteten Arbeitsstelle an der HAB unter der Leitung von Helmar Härtel. Hier wurden alle Bestände von größeren Fonds bis zu Einzelstücken in Kirchengemeinden in einem „Adressbuch“ erfasst, das die Zahl der vorhandenen Handschriften und die zuständigen Ansprechpartner*innen vor Ort dokumentiert. Die Sammlungen größerer Bibliotheken wurden im Rahmen von DFG-Projekten an der HAB systematisch katalogisiert: mittelalterliche Handschriften aus Lüneburg, Hannover, Osnabrück, Hildesheim, Ebstorf, daneben aber auch kleinere Bestände, wurden in gedruckten Katalogen präsentiert.

Als Handschriftenzentrum arbeitet die HAB im Verbund mit den Bibliotheken in Berlin, Frankfurt, Leipzig, München und Stuttgart daran, den gesamten Handschriftenbestand in Deutschland wissenschaftlich zu erschließen. So wurden und werden hier in den letzten 20 Jahren mittelalterliche Codices aus Bremen, Halberstadt, Kiel, Lübeck und Göttingen katalogisiert – Grundlagenforschung im besten Sinne!

Die alten Wolfenbütteler Kataloge des Bibliotheksdirektors Otto von Heinemann vom Ende des 19. Jahrhunderts hatten bereits Kästner und Butzmann für unzulänglich befunden. Heinemann hatte auf der Grundlage älterer Verzeichnisse gleichsam im Akkord  gearbeitet. Seine kodikologischen Angaben waren allzu knapp gehalten und viele Texte hatte er mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln nur unzureichend genau identifizieren können. Deshalb begann man in Wolfenbüttel mit einer Neukatalogisierung nach den um 1962 entwickelten Kriterien. In den 1970er bis 1990er Jahren wurden an der HAB vor allem mittelalterliche Fremdbestände und frühneuzeitliche Handschriften aus den eigenen Sammlungen (Extravagantes, Novissimi) bearbeitet. 2001 begann mit Förderung durch die DFG die Neubearbeitung der mittelalterlichen Helmstedter Handschriften der HAB. Seit 2017 widmet sich ein kunsthistorisch ausgerichtetes Projekt der Katalogisierung der illuminierten Handschriften des frühen und hohen Mittelalters, also Zimelien wie dem spätantiken Agrimensorencodex, dem Reichenauer Perikopenbuch und den Prachtevangeliaren, aber auch vielen bislang unbeachteten Handschriften mit Buchmalerei und Zierinitialen. Ein*e wissenschaftliche*r Bearbeiter*in kann pro Arbeitsjahr etwa 20 bis 25 Handschriften den Richtlinien entsprechend detailliert erschließen. Die neuen Beschreibungen dieser Handschriften werden in gedruckten Katalogen und fortlaufend in der lokalen Handschriftendatenbank der HAB publiziert, die seit 2011 online Informationen bereithält. Die Daten finden auch Eingang in das nationale Portal Manuscripta Mediaevalia. Diese mittlerweile in die Jahre gekommene Datenbank wird in Zukunft durch das neu entwickelte Handschriftenportal ersetzt, in dem nicht nur die ausführlichen Beschreibungen, sondern vielfach auch die Digitalisate der darin nachgewiesenen Handschriften weltweit bequem greifbar sind.

In den vergangenen 20 Jahren wurden an der HAB in zahlreichen Projekten insgesamt über 1000 mittelalterliche Handschriften ausführlich neu katalogisiert und über 1600 Handschriften vollständig digitalisiert. Neue Forschungsliteratur zu den Handschriften wird fortlaufend im OPAC der HAB und in der Handschriftendatenbank nachgewiesen, sodass der aktuelle Kenntnisstand stets nachzuvollziehen ist.

Es ist ein Marathonlauf! Viele weitere Handschriften der HAB, besonders in den Gruppen der Augusteer und der Novi bedürfen noch eingehender Erforschung, um in Zukunft auch für sie gründliche Erschließungsdaten anbieten und sie für alle Interessierten nutzbar machen zu können.

 

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