04. August 2021

Das Interview wurde im Mai 2021 geführt und spiegelt daher den Stand der Dinge zu diesem Zeitpunkt wider. Wir möchten daher darauf hinweisen, dass nicht alle der hier beschriebenen Einschränkungen heute noch gelten. Unsere aktuellen Öffnungszeiten finden Sie hier.

HAB: Wie sah Ihr ursprünglicher Plan für Ihr Projekt und den Aufenthalt in Wolfenbüttel aus? Was hat gut funktioniert, welche Änderungen mussten Sie vornehmen?

Tomás: Mein ursprünglicher Plan sah vor, mir zunächst einen Überblick über die handschriftlichen Briefe von Johannes Caselius (1533-1613) zu verschaffen. Caselius war der vielleicht prominenteste lutherische Humanist des letzten Drittels des 16. Jahrhunderts und ein enorm einflussreicher Professor für Philosophie, zunächst an der Universität Rostock und später an der Universität Helmstedt. Es gibt 28 Bände seiner Manuskriptkorrespondenz in der HAB, es ist also eine riesige Menge an Quellenmaterial, die bisher in weiten Teilen noch nicht von Wissenschaftler*innen genutzt wurde. Ich wollte versuchen, im ersten Monat oder so ein Gefühl dafür zu bekommen, was da ist, bevor ich entscheide, wo ich tiefer eintauchen möchte. Als ich ankam, war der Handschriftenlesesaal allerdings geschlossen und das hat sich bisher nicht geändert. Dankenswerterweise waren die Mitarbeiter*innen der Handschriftenabteilung (insbesondere Dr. Christian Heitzmann) unglaublich hilfsbereit und haben viel Zeit und Mühe investiert, um herauszufinden, welche Manuskripte sicher in den Zeughaus-Lesesaal geschickt werden können, damit ich sie sichten kann. Es wurden sogar Restaurierungsarbeiten an den besonders empfindlichen Manuskripten durchgeführt, sodass auch diese letzten Endes hinübergeschickt werden konnten.

 

HAB: Sind Sie gut mit Ihrem Projekt vorangekommen? Sind Sie mit den bisherigen Ergebnissen zufrieden?

Tomás: Ich glaube, ich habe schon recht große Fortschritte gemacht. Da mein Zugang zu den Manuskripten eingeschränkt war – und weil es sich um eine in mancher Hinsicht noch undurchsichtigere Quellenbasis handelt, als ich dachte – habe ich meinen Plan aufgegeben, Caselius' handschriftliche Korrespondenz zu untersuchen, wenn auch nur vorläufig. Stattdessen arbeite ich mich durch seine libri annotati (kommentierte Bücher, s. nächste Frage) und lese mich weiter in seine Publikationen ein, um dann mit besseren und präziseren Fragen an seine Manuskripte heranzugehen. Ich habe auch seine gedruckte Korrespondenz (in Ausgaben aus dem 16. und 17. Jahrhundert) gelesen, um ein Gefühl für seinen Schreibstil zu bekommen und sein Netzwerk zu erfassen. Das alles mit dem Ziel, die handschriftlichen Briefe, auf die ich mich hoffentlich bald wieder konzentrieren werde, besser verstehen zu können.

 

HAB: Hatten die ungewöhnlichen Bedingungen auch Vorteile?

Tomás: Ja, tatsächlich! Ich wusste ja, dass Caselius' persönliche Bibliothek im frühen 17. Jahrhundert an die Helmstedter Universitätsbibliothek gegeben worden war, also hatte ich mir gedacht, dass einige seiner Bücher, vielleicht mit Marginalien, in der HAB zu finden sein könnten. Aber ich hatte mich so sehr auf die Manuskripte konzentriert, dass ich seinen gedruckten Büchern nicht viel Beachtung schenkte. Als ich hier ankam und dachte, dass ich vielleicht monatelang kein Manuskript ansehen könnte, fragte ich den Leiter der Handschriftenabteilung, Dr. Christian Heitzmann, ob die HAB libri annotati von Caselius besäße. Er bejahte dies nicht nur, sondern zeigte mir freundlicherweise, wie man den Online-Katalog der HAB nach Provenienzen durchsuchen kann, wodurch ich mehr als neunzig Bücher ausfindig machen konnte, die sich früher in Caselius' Bibliothek befunden haben. Die Liste wird kontinuierlich erweitert, denn ich finde zusätzlich immer mehr Bücher, die noch nicht als Werke aus seinem Besitz katalogisiert sind. Das ist spannende Detektivarbeit. Viele dieser Bücher haben umfangreiche Marginalien und sind ausgezeichnete Quellen, um zu verstehen, wie dieser lutherische Humanist Texte las und interpretierte. Ohne das anfängliche Hindernis, dass der Handschriftenlesesaal geschlossen war, hätte es vielleicht noch lange gedauert, bis ich diesen wahren Schatz entdeckt hätte.

 

HAB: Wie erleben Sie die Bibliothek in der Pandemie?

Tomás: Abgesehen davon, dass ich in den Lesesaal gehe und Bücher bestelle, bekomme ich von der Bibliothek selbst leider nicht sehr viel mit. Wir können noch immer nicht im Freihandbestand stöbern, also bestelle ich meistens nur online von meinem Büro aus Bücher und komme dann alle paar Tage am Tresen im Zeughaus vorbei, um sie abzuholen.

 

HAB: Wie gestaltet sich Ihr Kontakt zu anderen Stipendiat*innen und den Mitarbeiter*innen der Bibliothek?

Tomás: Das war für mich wahrscheinlich einer der traurigsten Teile der Erfahrung "Wolfenbüttel in Zeiten von Corona". Ich hatte wunderbare Geschichten über die kollegiale Kultur in der HAB gehört, mit ihren Kaffeerunden und den regelmäßigen Gesprächen zwischen Wissenschaftler*innen und Mitarbeiter*innen. Davon ist aktuell natürlich fast nichts zu spüren. Die virtuellen Veranstaltungen und Kolloquien, die die Bibliothek anbietet, habe ich sehr genossen, aber es ist schwer, Menschen in einem solchen Rahmen wirklich kennenzulernen. Ich habe mich mit ein paar anderen Forscher*innen angefreundet (die auch für längere Aufenthalte hier sind), und wir gehen gelegentlich im Freien einen Kaffee trinken. Im April sind zwei Wissenschaftler*innen mit ihrer zweijährigen Tochter neben uns eingezogen. Das war für uns ein großes Glück, vor allem weil unser Sohn jetzt jemanden in seinem Alter zum Spielen hat! Der meiste Kontakt mit den Mitarbeiter*innen findet per E-Mail statt. Ich habe auch einige sehr freundliche Gespräche geführt, aber die derzeitige Atmosphäre wirkt sehr isolierend – es ist nahezu unmöglich, ein Gespräch mit jemandem anzufangen (was in einer fremden Kultur und einer fremden Sprache ohnehin schon eine Herausforderung ist!), da alle versuchen, den Kontakt zu anderen Menschen zu minimieren.

 

HAB: Wie sieht ein typischer Tag für Sie und Ihre Familie hier in Wolfenbüttel in Zeiten von Corona aus?

Tomás: Die meisten Tage sind nicht sonderlich aufregend. Ich stehe vor meiner Frau und meinem Sohn auf und verlasse die Wohnung meist gegen 7:30 Uhr. Ich gehe in mein Büro im Anna-Vorwerk-Haus, um zu arbeiten. Manchmal verbringe ich die gesamte Öffnungszeit (10 bis 16 Uhr) im Zeughaus-Lesesaal, an anderen Tagen bleibe ich bis 17 Uhr in meinem Büro und gehe dann zum Abendessen nach Hause. An etwa zwei Abenden in der Woche – zumindest während des amerikanischen Semesters, wenn an meiner Heimatuniversität viele virtuelle Veranstaltungen stattfinden – habe ich abends Besprechungen via Zoom, sodass ich bis spät in die Nacht im Büro bleibe. Meine Frau Eleanor ist eine "stay-at-home mom" (was in Zeiten von Corona fast wörtlich zu nehmen ist!) und verbringt daher den Tag mit Lesen und Spielen mit unserem Sohn Marvin (2) zu Hause und experimentiert mit deutschen Rezepten und der deutschen Kücheneinrichtung. Die beiden machen aber auch jeden Tag ein oder zwei lange Spaziergänge, sofern es draußen nicht zu ungemütlich ist, und kommen manchmal bei mir im Büro vorbei, um Hallo zu sagen. Die meiste Zeit verbringen wir abends und an den Wochenenden miteinander.

 

HAB: Gibt es eine besondere Erfahrung, die charakteristisch für Ihren Aufenthalt hier ist?

Tomás: Was mir dazu sofort in den Sinn kommt, ist das Bewusstsein meines Sohnes für Masken. Marvins Wortschatz hat sich seit unserer Ankunft sprunghaft entwickelt, und so ist es natürlich nicht verwunderlich, dass "Maske" ein Teil davon ist, aber es ist bezeichnend, dass er Masken als einen wesentlichen Bestandteil des Verlassens der Wohnung betrachtet. Wann immer wir uns zum Aufbruch bereitmachen, ruft er "Schuhe! Maske! Schlüssel!". Er hat sich auch angewöhnt, uns darauf hinzuweisen, wenn wir an jemandem vorbeigehen, der keine Maske trägt - was ein bisschen peinlich sein kann! Ich glaube nicht, dass dies in den USA der Fall gewesen wäre, oder zumindest nicht auf die gleiche Weise. Da wir ein eigenes Haus haben und überall mit dem Auto hinfahren, würde das Aufsetzen einer Maske nicht zur Routine gehören, wenn wir irgendwohin gehen, sondern nur, wenn wir zum Beispiel ein Lebensmittelgeschäft betreten. Auch ein Spaziergang in unserer Wohngegend in den USA würde normalerweise keine Maske erfordern. Marvins Verständnis von Masken wäre in den USA also nicht so sehr „das, was wir tragen, wenn wir das Haus verlassen“, sondern eher „das, was wir innerhalb bestimmter anderer Gebäude tragen“. Ich vermute, dass das eine Auswirkung darauf haben könnte, wie er die Beziehung zwischen der Außenwelt und seinem Zuhause sieht. Das hat also nicht unbedingt etwas mit der HAB zu tun - es ist vielmehr die Momentaufnahme einer amerikanischen Familie, die in Zeiten von Corona in eine deutsche Kleinstadt verpflanzt wurde.

 

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Tomás Valle befasst sich in seiner Forschung mit der lutherischen intellektuellen Kultur um 1600 mit einem besonderen Fokus auf ein Netzwerk von Professoren, die an den Universitäten Helmstedt und Rostock tätig waren. Seine Arbeit in Wolfenbüttel wird von der Fulbright Foundation gefördert. Lesen Sie hier unseren HABlog-Beitrag zur Restaurierung der Manuskripte von Johannes Caselius.

 

Wir möchten uns ganz herzlich bei Tomás und seiner Familie bedanken, dass sie uns an ihren Erfahrungen hier an der HAB teilhaben ließen.

 

Das Interview führten: Alexandra Serjogin und Dr. Marie Adler