03. Februar 2021
Das Projekt „Weltwissen. Das kosmopolitische Sammlungsinteresse des frühneuzeitlichen Adels" beschäftigt sich mit den fürstlichen Privatsammlungen des 18. Jahrhunderts. Es werden insbesondere Sammelpraktiken sowie das damit einhergehende kulturelle und wissenschaftliche Interesse des fürstlichen Adels in den Blick genommen. Die sogenannten Fürstenbibliotheken kamen nach dem Tod ihrer Besitzer*innen in die Wolfenbütteler Bibliothek, wo sie zunächst als individuelle Sammlungen aufgestellt, später dann aber in den Gesamtbestand integriert wurden. Heute ist die Mehrzahl dieser Bücher Teil der Mittleren Aufstellung der HAB und die historischen Sammlungen sind nicht mehr als solche erkennbar.
Auf Basis bisher unerschlossener Kataloge und Inventare können wir die fürstlichen Privatbibliotheken mit großer Genauigkeit virtuell rekonstruieren und mit Hilfe des Programms LibReTo visualisieren. Ergänzend dazu suchen wir die Originalexemplare im heutigen Bestand der Herzog August Bibliothek, um weitere Provenienzen zu ermitteln und das Bild zu komplettieren. Dabei helfen uns typische äußere Merkmale der Bücher, wie etwa Einbandgestaltung oder die Präsenz von Supralibros, einem Monogramm, das auf ein Buch geprägt wurde und damit den Besitz kennzeichnete.
Zusätzlich werden die einzelnen Bücher auf Gebrauchsspuren wie etwa Notizen oder Unterstreichungen untersucht. Die so gewonnenen Erkenntnisse werden mit Hilfe von weiteren Quellen aus den fürstlichen Nachlässen in einen größeren Kontext gesetzt, um schließlich ein genaues Bild der Inhalte der Bibliotheken und der Benutzung der Bücher zu erhalten.
In einem nächsten Schritt können wir die Funktion der Sammlungen für ihre Besitzer*innen untersuchen. Im ersten Jahr des Projekts standen dabei die Bibliotheken von Elisabeth Sophie Marie von Braunschweig-Wolfenbüttel (1683–1767) und Philippine Charlotte von Braunschweig-Wolfenbüttel (1716–1801) im Fokus. Beide Frauen besaßen umfassende Sammlungen von jeweils mehreren tausend Büchern, die sie bis an ihr Lebensende pflegten und nutzten.
Für die Frauen stand einerseits die persönliche Weiterbildung im Vordergrund, wie durch Briefe, Selbstzeugnisse und handschriftliche Einträge in den Büchern nachvollzogen werden kann. So schrieb Philippine Charlotte etwa an ihren Bruder Friedrich den Großen, dass sie jede Gelegenheit nutze, um sich weiterzubilden und dass ihre Bücher ihr dabei halfen, „ihren Geist nicht einrosten zu lassen“ („je cherche tous les moyens pour m’instruire, c’est l’unique ressource à mon age pour empecher de s’enrouiller l’esprit“).
Sie eigneten sich mit Hilfe ihrer Bücher Wissen an, das ihnen eine Teilhabe am zeitgenössischen kulturellen und wissenschaftlichen Diskurs ermöglichte. Außerdem waren ihre Bibliotheken soziale Räume. Nicht selten empfingen sie hier Gäste, denen sie ihre Sammlungen zeigten und mit denen sie über die neueste Lektüre diskutierten. Besonders die berühmte Bibelsammlung Elisabeth Sophie Maries lockte mit ihren 1200 Exemplaren viele Besucher*innen, darunter namhafte Gelehrte wie etwa Johann Christoph Gottsched oder Johann David Köhler, an. Davon zeugen die über 250 Einträge im Stammbuch der Herzogin, in dem die Gäste sich verewigen durften.
Wenngleich die Sammlung Ausdruck der tiefen Frömmigkeit der Fürstin war, war sie auch ein wesentlicher Beitrag zur Bibelgelehrsamkeit dieser Zeit – ein Aspekt, den es in den kommenden Jahren weiter zu erforschen gilt.
Es blieb aber nicht nur beim Empfangen von Gästen. Die Fürstinnen gestatteten Gelehrten den Gebrauch ihrer Bücher und unterstützen sie finanziell, erhielten im Gegenzug Widmungen und das damit einhergehende soziale Prestige. Elisabeth Sophie Marie förderte etwa über Jahrzehnte hinweg den berühmten Theologen Johann Lorenz von Mosheim, Philippine Charlotte unterstützte mehrere am Braunschweiger Collegium Carolinum tätige Gelehrte. Die Bibliotheken waren damit auch zentral für das kultur- und wissenspolitische Engagement der Fürstinnen.
Schließlich können wir beobachten, wie die Bibliotheken eine wirtschaftliche Funktion erfüllten. Nicht nur akkumulierten die Fürstinnen mit ihren Sammlungen soziales Kapital, sondern auch reale monetäre Werte, die es zu verwalten und zu vermehren galt. Allein schon die hohen Summen, die die Fürstinnen für ihre Bibliotheken ausgaben, zeugen von dem hohen Stellenwert, den die Bücher in ihrem Leben einnahmen. Aus gutem Grund bezeichnete Elisabeth Sophie Marie ihre Sammlung als „Schatz“.
Das Sammeln von Büchern war demnach mehr als nur eine Nebenbeschäftigung. Für die Wolfenbütteler Fürstinnen und Fürsten waren die Bibliotheken ein integraler Teil ihres Alltags: Sie dienten der Herrschaft, waren Orte der Repräsentation, aber eben auch der privaten Weiterbildung und des Vergnügens. In den kommenden Jahren gilt es, eben diese Vielschichtigkeit weiter zu untersuchen, um damit das Sammeln als elementare kulturelle Praxis der Frühen Neuzeit noch besser zu verstehen.
PURL: http://diglib.hab.de/?link=150
Das Projekt „Weltwissen. Das kosmopolitische Sammlungsinteresse des frühneuzeitlichen Adels ist eine von zwei Fallstudien, die im Rahmen des Forschungsverbunds MWW an der HAB durchgeführt werden. Beide haben das Ziel, bestandsbezogene Forschung mit Hilfe digitaler Methoden weiterzuentwickeln. Das Projekt Intellektuelle Netzwerke. Frühneuzeitliche Gelehrtenbibliotheken als Wissens- und Kommunikationsräume möchten wir Ihnen in einem unserer nächsten Beiträge vorstellen.
Die Autorin
Dr. Joëlle Weis war von 2019 bis Ende 2021 als wissenschaftliche Mitarbeiterin im MWW-Projekt „Weltwissen. Das kosmopolitische Sammlungsinteresse des frühneuzeitlichen Adels“ tätig. Seit 2021 leitet sie am Trier Center for Digital Humanities den Forschungsbereich „Digitale Literatur- und Kulturwissenschaften“.
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