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Ulrich Boner: Edelstein

1. Papier. 225 Bl. 36 x 26,5 cm. 104 kolorierte Federzeichnungen. 15./16. Jh. Süddeutschland
Codex Guelferbytanus 2. 4 Augusteus 2°,30v

2. Papier. 88 Blätter mit 203 Holzschnitten (einer davon 101 mal wiederholt). 20,5 x 14 cm. Ulrich Boner: Der Edelstein, 1. Auflage. Bamberg, Albrecht Pfister, 1461
16.1 Ethica 2° (1), S. 85 




Als Beispiel für erzählende Texte des Mittelalters ohne historischen Bezug steht hier eine recht bekannte Fabelsammlung.
Fabeln transponieren zumeist allgemeine Lehren in kleinen Geschichten aus dem Tierreich. Dieses Verfahren machte die Fabel besonders im späten Mittelalter beliebt und nicht von ungefähr hat Herzog August der Jüngere die älteste deutsche Fabelsammlung des Berner Dominikanermönchs Ulrich Boner aus dem frühen 14. Jahrhundert in drei ”zerlesenen” Gebrauchshandschriften und dem berühmten Inkunabeldruck des Bamberger Druckers Albert Pfister aus dem Jahr 1462 erworben. 
Die Fabel vom Bauern, seinem Sohn und dem Esel wird in einer Bildersequenz sowohl in einer der drei Handschriften wie im Pfisterdruck illustriert. So sorgfältig die Holzschnitte in der Inkunabel ausgeführt sind, so ”herzlich schlecht” (Gotthold Ephraim Lessing) erscheinen sie in der Handschrift. Die Inkunabel besitzt zweiteilige Holzschnitte: Der größere hebt einen bedeutenden Moment der jeweiligen Geschichte hervor, der kleinere zeigt die Figur eines weisenden Mannes, hinter dem der Dichter zu vermuten ist, der ”auf die Moral von der Geschichte” verweist, die Handschrift hat violett gerahmte, mit Deckfarben kolorierte Federzeichnungen  in der Größe der jeweils dargestellten Figuren. 

Die Fabel von dem Vater, dem Sohn und dem Esel

Einst ging ein Mann mit seinem Sohn zum Markt. Er nahm seinen Esel mit und ritt auf ihm; sein Sohn ging nebenher. Da begegneten ihnen Leute, die verwundert sprachen: ”Wie kann der Alte reiten und das Kind laufen lassen.? Er sollte besser selber gehen und das Kind aufsitzen lassen.” – Der Alte richtete sich nach diesen Worten und ließ seinen Sohn reiten. Sie begegneten zwei Männern, und der eine sagte zum andern: ”Der Alte ist ein Narr, daß er selbst läuft und den Knaben reiten läßt.” Nun setzte sich der Vater zu seinem Sohn auf den Esel. Als sie wieder Leute trafen, sagten die: ”Um Gottes willen, die beiden reiten den Esel zuschanden!” – Nun stiegen beide ab und liefen neben dem Esel her. Da kamen Männer und Frauen und sagten: ”Schaut diese Torheit: da läuft der alte Mann mit seinem Sohn, und den Esel lassen sie ledig gehen!” – Da sprach der Vater: ”Wir wollen nun beide den Esel tragen; ich möchte wissen, was die Leute dazu sagen.” Sie banden dem Esel die Beine zusammen und trugen ihn auf einer Stange. Die Leute sagten: ”Man sieht, daß beide Narren sind.” Da seufzte der Alte und  sprach zu seinem Sohn: ”Wie wir es auch gemacht haben, keinem war es recht. Darum rate ich dir, immer das Richtige zu tun; dann wirst du selig werden.” – Wer in Ehren bestehen will, soll sich durch Gerede nicht irre machen lassen. Was man auch Gutes tut, der Welt ist es nicht gut genug.



(c) 2001 Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel