30. November 2022

Wie klang Musik um 1500? Schalmei, Pommer, Zugtrompete – wie klangen diese Instrumente und haben sie etwas gemeinsam mit Oboe, Klarinette, Trompete oder Saxophon? All das können wir nur mühsam indirekt erschließen, denn Aufnahmen aus der Zeit gibt es natürlich nicht. Und: Wie kamen Musiker*innen an ihre Noten? Kopierer gab es schon, aber die gingen auf zwei Beinen, übertrugen die Noten mühsam per Hand und mussten teuer bezahlt werden. Die durch das Fotokopieren und Scannen errungenen Erleichterungen können gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. In beiden Fällen muss das Originalmanuskript oder schon eine Abschrift/ ein Druck davon vorliegen. Neben Archiven und Museen sind es oftmals Bibliotheken, in denen diese Musikalien aufbewahrt werden und dem interessierten Publikum zugänglich sind – so etwa auch, als herausragendes Beispiel, die Herzog August Bibliothek (HAB) in Wolfenbüttel.

Welche Art von Musik kann man in glaubwürdiger Weise heute noch mit Instrumenten aus dem 16. und 17. Jahrhundert spielen, zumal so, dass sie ein gegenwärtiges Publikum mitreißen kann? Auch da hilft die HAB, verfügt sie doch neben den aufbewahrten Noten als Grundlage auch über Räumlichkeiten, in denen die Musik früherer Jahrhunderte akustisch hervorragend zur Geltung kommt. Für das Wandelkonzert am 2. Dezember 2022 wurden vier dieser Räume als Spielstätten für vier Ensembles auserkoren. Begleitend und Bezug nehmend zu allen vier Konzerten, stellen Mitarbeiter*innen der HAB Objekte aus dem Bestand vor.

In der Augusteerhalle tritt der Pianist Markus Becker mit „Regarding Beethovenauf. Über den idealen Moment in der Improvisation schreibt Becker auf seiner Homepage: „Da äußere ich mich quasi ungeschützt, mache mich berührbar. Ich lasse mich fallen. Wenn diese Rückhaltlosigkeit vom Publikum erwidert wird, wenn die Energie zurückkommt, dann kann ein Raum entstehen, in dem ganz grundlegende, fast archetypische Erfahrungen verhandelt werden. Die Zuhörenden können aktive Teilhaber eines wechselseitigen Geschehens werden, das ohne die Musik vielleicht nie in Gang gekommen wäre.“ Einleitend stellt Hole Rößler, stellvertretender Leiter der Abteilung Forschungsplanung und Forschungsprojekte, eine barocke Komponiermaschine vor. Mit dieser sollten selbst unkundige Laien vierstimmige Musik erfinden – und auf diese Weise also ebenfalls am musikalischen Schaffensprozess teilhaben können.

Die Improvisation steht auch im Gartensaal des Lessinghauses im Fokus. Hier präsentieren Lorenz Raab (Flügelhorn) und Christof Dienz (E-Zither) das Programm „Sounds reworked. Jazz auf Flügelhorn und E-Zither“. Begleitend zeigt Sarah Janke – Fachreferentin für Künstlerbücher – ein Künstlerbuch der Improvisation; durch das Zusammenwirken von fünf internationalen Künstler*innen ist auf 196 Seiten in acht Jahren eine neue, unikale Komposition im Buchformat entstanden: „Lady Mikado’s Landscape“ von Uta Schneider, Ulrike Stoltz, Marshall Weber, Christopher Wilde und Kurt Allerslev.

Im Silbersaal des Anna-Vorwerk-Hauses spielt das Ensemble Concerto Ispirato auf. Das Ziel der Musiker*innen unter der künstlerischen Leitung der Barockviolinistin Iris Maron ist es, Alte Musik „mit Kreativität und Neugier auf höchstem professionellem Niveau mit neuem Leben zu füllen“. Am Abend des 2. Dezember widmet sich das Ensemble in diesem Sinne dem Programm „Händel in Niedersachsen. Georg Friedrich Händel (1685-1759)“. Sven Limbeck, stellvertretender Leiter der Handschriftenabteilung, präsentiert dazu die handschriftliche Originalpartitur, die in der HAB aufbewahrt wird (110 Mus.Hdschr.).

Im Zusammenspiel von Schüler*innen und Renaissancespezialist*innen erklingen im Zeughaus Werke des einstigen Hofkapellmeisters von Wolfenbüttel, Michael Praetorius (1571–1621),  und einigen seiner Zeitgenossen auf ganz neue Weise: Das Spezialensemble Capella de la Torre hat zusammen mit Kurator*innen, Historiker*innen und Museumspädagog*innen das Vermittlungsprojekt „YOUNG PRAETORIUS“  entwickelt, bei dem sich Musiker*innen und Publikum mit den authentischen Musikinstrumenten und mit originalen Musikhandschriften oder Drucken der HAB auseinandersetzen. Natürlich kommen, um die Originale zu schonen, exakte Kopien zum Einsatz. Es handelt sich um ein sparten- und institutionenübergreifendes Projekt mit dem Event-Charakter eines Konzertes. Dabei sollen Brücken geschlagen werden, die Musik der Renaissance nicht als fremd und Bibliotheken und Museen nicht nur als Orte des Zurückblickens, sondern auch der lebendigen und unmittelbaren Erfahrung etabliert werden. Junge Besucher*innen sind aufgefordert, ihre eigenen Ideen und Erfahrungen in die Projekte einzubringen. Es soll ausprobiert, gefragt und mitgemacht werden. Dabei kommen Publikum, Organisator*innen, Musiker*innen und alle Beteiligten in Kontakt und entwickeln neue Perspektiven. „YOUNG PRAETORIUS“ blickt gleichzeitig zurück in die Geschichte und vorwärts in die Zukunft. Der Direktor der HAB, Peter Burschel, präsentiert anlässlich des Konzertes die Holztafel mit der Bibliotheksordnung, die Herzog August vor 386 Jahren in der Bibliothek anbringen ließ.

Eine Bibliothek kann ganz wunderbar „klingen“, die historischen Instrumente sind nur authentisch, wenn sie mit Begeisterung und gemeinsam von und mit Menschen von heute gespielt werden. Verstaubt war gestern! Alle Konzerte finden zweimal statt: um 17 und um 18 Uhr. So können die Besucher*innen wandeln: zwischen den Zeiten, zwischen den Räumen, zwischen den Konzerten. Im Anschluss findet in der Zeughaushalle ein Empfang statt. Eintritt: frei!

 

PURL: http://diglib.hab.de/?link=125

 


Abbildung oben: Unbekannter Stecher: Musik. 1676 -1750. HAB: Graph. C: 417.


Die Autorin

Katharina Bäuml, geboren in München, studierte zunächst moderne Oboe und legte ihr Diplom „mit Auszeichnung“ ab. Daneben studierte sie Barockoboe und historische Rohrblattinstrumente an der Schola Cantorum in Basel und schloss auch hier „mit Auszeichnung“ ab. 2005 gründete sie „Capella de la Torre“, das heute wichtigste deutsche Ensemble für Renaissancemusik. Für das Wandelkonzert "Wir HABen Musik" am 2.12.22 hat Katharina Bäuml die künstlerische Leitung inne.

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