10. Juli 2025
Mit den aufwendig von Hand gestalteten, einzigartigen Stundenbüchern seiner Zeit hat das ‚Zeitobjekt‘ allerdings nur wenig gemeinsam: Ausgestattet mit einfachen Holzschnitten, war das kleine Blockbuch (enthalten in Cod. Guelf. 1189 Helmst.) für die Massenproduktion und den Alltagsgebrauch ausgelegt. Auch sein kleines Format (14–14,5 × 9,5–10,5 cm) und die wenigen Folia (180v – 189r) wirken unscheinbar. Dafür handelte es sich bei diesem Artefakt um ein wahres zeitliches ‚Multifunktionswerkzeug‘, das aufzeigt, in welchen Formen Zeit in den tatsächlichen alltäglichen Zusammenhängen der nordeuropäischen Vormoderne relevant wurde.
Zunächst fallen die schlichten Darstellungen typischer jahreszeitlich bedingter Aktivitäten ins Auge, wie beispielsweise auf dem obigen Bild (Ernte der Weinreben im Herbst. Ebenfalls enthalten: Das Tierkreiszeichen Skorpion, Oktober, fol. 186v. HAB). Zu sehen sind Menschen die im Frühling Holz hacken, Felder bearbeiten, im Herbst Weinreben ernten oder im Winter Tiere schlachten. Alles hatte seine Zeit und die vielen Rhythmen der Natur gaben vor, was wann getan werden musste, konnte oder sollte. So ist dem Kalender beispielsweise zu entnehmen, dass Tiere im Winter geschlachtet werden sollten: Niedrige Temperaturen ließen das rohe Fleisch schließlich weniger schnell schlecht werden.
Wird weiter geblättert, fallen als nächstes die Tierkreiszeichen auf den einzelnen Kalenderseiten auf. Diese waren für einen gänzlich anderen Bereich von Bedeutung, denn auch medizinische Praktiken waren in der Vor- und Frühmoderne eine Sache des richtigen ‚Timings‘. Ein Aderlass konnte beispielsweise nicht einfach irgendwo am Körper und zu einer beliebigen Zeit erfolgen. Die korrekte Durchführung hing besonders von der scheinbaren Bewegung der Sonne ab, die der Vorstellung nach im Verlauf des Jahres die unterschiedlichen Tierkreiszeichen durchwanderte. Über die möglichen komplexen Zusammenhänge zwischen der Zeit der Himmelskörper und des menschlichen Körpers wurde im 15. Jahrhundert sogar auf universitärem Niveau nachgedacht. Darauf basierend konnte über die im Kalender enthaltene Darstellung eines sogenannten Tierkreismannes (188v) auf einen Blick ermittelt werden, an welcher Stelle zu einer bestimmten Zeit im Jahr der Aderlass erfolgen sollte. Behilflich war zudem ein eigener Aderlasskalender, der eine noch genauere Bestimmung ermöglichte (189r).
Der Kalender ermöglichte ebenfalls die unkomplizierte Ermittlung der hellen Tagstunden. Etwa alle 20 Tage – einem eigenen Rhythmus folgend – gaben besondere Symbole die Tageslänge an, wobei sie auf eine bestimmte Weise ausgelesen werden mussten.
Sie in den Kalender zu integrieren leuchtet ein: Um Arbeitsprozesse zu planen brauchte es schließlich eine Idee davon, mit wie viel Arbeitszeit zu einer bestimmten Zeit im Jahr gerechnet werden konnte. Nicht zuletzt konnten von solchen Berechnungen auch die eigenen oder fremden Arbeitslöhne abhängen. Solche Zeitmessungen wären jedenfalls keineswegs unüblich gewesen – das 15. Jahrhundert kannte längst einen präzisen Umgang mit Zeit, wenn es um Geld, Handel und Arbeit ging. Doch trotz der mittlerweile verbreiteten mechanischen Schlaguhr und damit der Uhrzeit hingen die Arbeitszeiten noch immer von den sich wandelnden Tageslängen ab. Das führte dazu, dass sie sich in industriellen Zusammenhängen sogar bis zu elf Mal im Jahr wandeln konnten, so etwa von siebeneinhalb Stunden im Winter hin zu elfeinhalb Stunden im Sommer. Die im Kalender angegeben Stunden jedenfalls reichen von acht Stunden im Winter bis zu 16 Stunden im Sommer.
Besonders aber stechen sicherlich die religiösen Dimensionen des Kalenders hervor. Das gesamte Blockbuch beginnt mit äußerst elaborierten Werkzeugen zur Berechnung des Osterfestes und der Fastenzeit. Wer ein frommes Leben führen wollte, kam um diese Zeitrechnung nicht herum. Die kleinen Zeichnungen, die den oberen Rand das Kalenders zieren, visualisieren dabei zentrale Termine des christlichen Heiligenkalenders: Zu sehen sind kleine Figuren oder auch typische Attribute, die mit den jeweiligen Heiligen assoziiert wurden. Im Gegensatz zum beweglichen, von den Rhythmen der Himmelskörper abhängenden Osterfestkreis waren die Feste der vielen Heiligen fixiert und fanden immer am selben Datum statt.
Die Berechnung des Osterfestes war jedoch nicht nur aus religiösen Gründen von höchster Bedeutung: Häufig fielen regelmäßige, zentrale weltliche Ereignisse – so etwa Miet-, Pacht- und Rentenzahlungen, aber auch große Märkte – mit den hohen christlichen Festen rund um Ostern zusammen. Das galt auch für den terminlich fixierten Heiligenkalender, über dessen Feste das Zusammenleben insgesamt zeitlich koordiniert wurde. Die Zeit zu kennen, war in diesen Zusammenhägen besonders wichtig, da bei verspäteten Zahlungen durchaus Strafen anfallen konnten.
Insgesamt verweist das komplexe Artefakt auf einen bewussten, auch abstrakten vormodernen Umgang mit Zeit. Es offenbart, welche regelmäßigen Zyklen für Menschen alltäglich von Bedeutung waren – etwa der (scheinbare) Lauf der Sterne, der Sonne und des Mondes, der Termine des liturgischen Kalenders – und welche Zeitlichkeiten damit ins Bewusstsein der Betrachter*innen drangen. Besonders wird deutlich, dass die Vormoderne keineswegs eine ‚zeitlose Zeit‘ war, in der das ‚Ungefähr‘ stets genügte. Es bestand vielmehr ein starkes Bedürfnis dahingehend, die ‚rechte Zeit‘ zu kennen, zu wissen, wann welche Ereignisse stattfanden oder stattfinden sollten. Letztlich zeigt der Kalender damit, wie unterschiedliche Rhythmen, sowohl menschgemachte wie natürliche, im Zusammenspiel dem Leben in der Vormoderne Struktur und Sinn verliehen.
Der Autor
Joseph Kretzschmar ist Doktorand am Institut für Philosophie an der Universität Bremen und am Historischen Seminar der Universität Erfurt. Einer seiner Forschungsschwerpunkte ist die Geschichte der Zeitmessung und -konzeptualisierung, Zeitphilosophie und Zeiterfahrung.
Mehr...Der Studientag „Zeitobjekte“ fand am 17. / 18. Februar 2025 an der Herzog August Bibliothek statt und war eine Kollaboration zwischen dem Projekt „Die Herzog August Bibliothek in 100 Objekten“ und dem vom Einstein Center Chronoi geförderten Projekt „Medieval and Early Modern Time Objects in Northern Germany“. Mehr...
Literatur
Champion, Matthew S. (2017). The Fullness of Time. Temporalities of the Fifteenth-Century Low Countries. Chicago: University of Chicago Press.
Le Goff, Jacques (1980) [1975]. Time, Work, and Culture in the Middle Ages, übersetzt von Arthur Goldhammer. Chicago: University of Chicago Press.
Stijnman, Ad (2009). Ein unbekanntes Blockbuch in Cod. Guelf. 1189 Helms. der Herzog August Bibliothek, Wolfenbüttel. In: Gutenberg-Jahrbuch, Bd. 84, S. 79–94.
Thompson, Edward P. (1967). Time, Work-Discipline, and Industrial Capitalism. In: Past & Present, No 38, S. 56–97.
