13. September 2022

I must have been about four when I dropped my doll onto the streets of my hometown. An elderly man would pick it up and hand it back to me. Thank you, sir! I was told by my parents to always be polite. Only this time my parents told me otherwise. Once back home I was spanked for calling him “Sir.” You see . . . he was not ‘we’, and you never say “Sir” to a ‘colored’ person. NEVER! NOT WE.

Diese kurze Episode macht deutlich: „Weiß“ zu sein, ist ein soziales Konstrukt und Abgrenzung wird allein durch die Macht der Sprache möglich. Doch es geht dabei auch um Wahrheit und Mut. Denn das kleine Mädchen, dem diese Geschichte widerfahren ist, entscheidet, dass die Wahrheit der Eltern nicht ihre ist. Es entscheidet, nicht mehr Teil dieses „Wir“ zu sein und hat den Mut, die Haltung der eigenen Eltern in Frage zu stellen.

Beldan Sezen geht es um das Aufzeigen der Grenzen des menschlichen Miteinanders und darum, dem Ungesagten Raum zu geben. Deshalb sind ihre Worte und Bilder – oder eben deren Auslassung – gleichermaßen wichtig. Mit dem Buch „Wetrocities“ (Malerbücher 69.FM 6) hinterfragt sie, warum Themen tabuisiert werden, welche Auswirkungen es hat, in diesen sozialen Strukturen zu leben und wann das Empfinden sozialer Gerechtigkeit greift.

Die Konstruktion von „Weiß“ wird auch in der Materialauswahl von „Wetrocities“ sichtbar: Beldan Sezen verwendet kein rein weißes Papier für ihr Buch, sondern alltägliches Zeitungspapier als Ausschnitt unserer Gegenwart, welches sie mit weißer Farbe übermalt. Dabei scheint die Schrift – an einigen Stellen mehr, an anderen weniger – weiterhin durch. Die handgeschriebenen Geschichten werden durch ihre Zeichnungen in Blotted-Line-Technik visualisiert. Andy Warhol hat diese Technik für die serielle Reproduzierbarkeit von Alltagsmotiven entwickelt. Dabei wird eine Bleistiftzeichnung mit Tusche auf durchscheinendes Papier kopiert und anschließend abgedruckt. Die Stärke der Linien lässt sich dadurch verändern; das Bild entsteht fast zufällig, da das Ergebnis auf dem bedruckten Blatt nicht kontrolliert werden kann und die gedruckte Linie nie so sauber und ordentlich wie in der Bleistiftversion ist. Sezen kontrastiert ihre Tuschezeichnungen anschließend mit leuchtendem Gelb. Eine Signalfarbe, die einerseits Aufmerksamkeit weckt, andererseits auch als Warnung wahrgenommen werden kann, indem sie einen kritischen Zustand markiert, der menschliches Eingreifen erfordert. „Wetrocites“ gibt Denkanstöße: Ganz subversiv wird durch die Dialektik von Schwarz und Weiß, Gegenwart und Geschichte, Intensität und Reduktion ein gesellschaftspolitisches Statement gesetzt.

 


Beldan Sezens Werk umfasst Graphic Novels, Künstlerbücher, Zeichnungen, Essays und Installationen. Sie ist türkischer Abstammung, gebürtige Deutsche und lebt sowohl in Amsterdam als auch in New York, wo sie sich in der Künstlervereinigung Booklyn engagiert. Für ihr Konzept eines begehbaren Buches wurde Sezen mit dem diesjährigen Künstlerbuchpreis der Herzog August Bibliothek und der Curt Mast Jägermeister Stiftung ausgezeichnet.

Im Rahmen der Preisverleihung am 14. September präsentierte die Künstlerin in einer Performance ihr Werk in der Augusteerhalle. Sie konnten nicht vor Ort dabei sein? Hier geht's zur Aufzeichnung der Veranstaltung.

 

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