14. April 2021

 

Zu Beginn des Jahres tätigte die Herzog August Bibliothek einen besonders spannenden Ankauf: Das Künstlerbuch Wege der Ameise (2020) von Kai Pfankuch ist auf mehreren Ebenen bemerkenswert. Zum einen handelt es sich um ein Unikatbuch - 120 Seiten handgeschriebene Texte auf halbtransparentem Chinapapier, begleitet von 52 Originalzeichnungen in japanischer Reibetusche und Aquarell. Der Hofheimer Künstler hat fast zwei Jahre daran gearbeitet. Zum anderen geht es inhaltlich über die kreative Verbindung von Kunst und Wissenschaft oder Text und Bild weit hinaus.

Wege der Ameise: Stanislaw Len, Der Unbesiegbare und Texte von der Antike bis heute. Graphik Kai Pfankuch

Wege der Ameise ist eine reflektierende Analyse der Gesellschaft mit ihren sozialen Ordnungen, von der Antike bis hin zu einer Zukunftsvision. Angeregt durch Niels Werbers Buch Ameisengesellschaften. Eine Faszinationsgeschichte (2013), das sich mit Ameisen als Metaphern zur Selbstbeschreibung von Gesellschaft in literarischen Texten beschäftigt, versammelt Kai Pfankuch Textauszüge von Plinius d. Ä., Ovid, Apuleius, Brant, Perrière, Lessing, Lichtenberg, Schopenhauer, Baudelaire, Laßwitz, Wells, Simmel, Jünger, Huxley, Vian und Hölldobler, die er Wort für Wort mit der Zeichenfeder abschreibt. Allen Texten gemeinsam ist der Topos der Ameisen und die Frage, inwieweit deren Form des Zusammenlebens auch ein Modell des Menschen und seiner sozialen Organisation sein könnte.

In einzelnen Buchlagen entstehen leitbegrifflich ausgerichtete Themenblöcke: Mythos, Traum (Antike); Moral (Spätmittelalter, beginnende Neuzeit); Vernunft, Staat, Revolte (Zeit der Aufklärung); Großstadtmenge, Gewimmel (Stadtentwicklung Mitte 19. Jahrhundert); Satire, Horrorgeschichte (ausgehendes 19. Jahrhundert); Persönlichkeit und Masse, Abstraktheit des Lebens (Stadtentwicklung ausgehendes 19. und frühes 20. Jahrhundert); Totalitarismus, Uniformität, Krieg, Mensch-Maschine (Dystopie), Organisation (Schwarm). Die „Ameisentexte“ werden durchgängig begleitet von zwei Kapiteln aus der Science Fiction-Erzählung Der Unbesiegbare von Stanisław Lem (1964), die von einem Schwarm selbststeuernder elektronischer Teilchen als Endstufe einer ‚toten‘ Evolution von Maschinen handelt. Szenische Umsetzungen, Zeichnungen in Tusche und Aquarell, verbinden die literarischen Vorlagen miteinander. Die bildlichen Interpretationen, deren Farbskala von bedrohlich wirkendem Rot und kühlem Blau dominiert wird, zeigen Körperfiguren sowie Architekturdarstellungen und spielen assoziativ die unterschiedlichen zeitgeschichtlichen Aspekte der Gesellschaftsordnung durch. Die utopischen Illustrationen der modernen kapitalistischen Massengesellschaft rufen Konnotationen von Technisierung, Automatisierung und Entfremdung hervor. Doch dieser Eindruck wird durch die feine, persönliche Handschrift des Künstlers immer wieder relativiert.

Neben dem Aspekt der Zeitlichkeit, der Rückwärts- und Vorwärtsgewandtheit von der Antike bis in die Zukunft, variiert Pfankuch auch die verschiedenen Dimensionen, indem er das zentrale Objekt, die Ameise, in schwarz-weiß gehaltenen Darstellungen vergrößert und das Insekt naturwissenschaftlich analysiert.

In ihrer Komplexität detailliert erfasst, durchwandern die regen Tiere, die immer in Bewegung scheinen, in ruhiger Ordnung die Texte. Taktung, Konformität und Struktur des Zusammenlebens der Ameisen zeigen den Kern, aber auch den Wandel sozialer Systeme. Mit Wege der Ameise schafft Kai Pfankuch eine Verbindung literarischer Inhalte und künstlerischer Ideen mit philosophisch-naturwissenschaftlichen Erkenntnissen als Echo in Vergangenheit und Zukunft. Eine Gesellschaftsgeschichte im Künstlerbuch.


Über den Künstler:

Kai Pfankuch ist Maler, Zeichner und Buchkünstler. Seine Arbeiten entstehen ausschließlich auf Papier: großformatige (auch mehrteilige) Aquarelle, aquarellierte Zeichnungen mit Pinsel und Tusche, Lithographien, Siebdrucke und Radierungen. Seit 1994 stellt er Künstlerbücher her, die er im Eigenverlag der Ikarus-Presse herausgibt. In der Sammlung der Herzog August Bibliothek ist Pfankuch mit zehn Arbeiten vertreten. Für das Künstlerbuch Wege der Ameise hat er die literarischen Textvorlagen während eines Forschungsaufenthalts an der Herzog August Bibliothek recherchiert.