20. Juli 2022

Es wird oft vergessen: Schon früh sind in Künstlerbücher die Erfahrungen des Krieges und seiner Folgen eingegangen, schon früh auch als Threnoi, als Trauer- und Klagelieder. So in jenen berühmten Totengesang, der aus der Zusammenarbeit – und Freundschaft – von Pablo Picasso und dem Lyriker Pierre Reverdy hervorgegangen ist. 1944/1945 entstanden und 1948 bei Tériade in Paris erschienen, bewahrt der „Chant des morts“ die Leiden des Zweiten Weltkriegs, indem er Reverdys handschriftlichen Text und Picassos leuchtend rote Punkte und Linien in einen geradezu magischen Dialog treten lässt. Die Herzog August Bibliothek erwarb ein Exemplar des Buches noch in der „Ära Kästner“ 1965.

Auch Erik Ruin, der 1978 als Erik Reuland in Detroit geboren wurde, führt in seinem 2019 erschienenen Künstlerbuch Erfahrungen von Krieg, Flucht und Völkermord zusammen – geht dabei aber ganz eigene mediale Wege. „A Threnody for the Dispossessed“, die zwei Jahre nach ihrem Erscheinen als erstes von zehn handsignierten Exemplaren für die Herzog August Bibliothek erworben wurde, umfasst eine über 18 Meter lange Bahn von 30 siebgedruckten Bildern in Leporellofaltung. Jede Bildseite wird von den Stimmen – von den Erfahrungen – Geflüchteter bzw. Überlebender begleitet, die mit Hilfe eines beiliegenden USB-Speichersticks eingespielt werden können. Ruin selbst hat Frauen und Männer aus dem Nahen Osten und aus Südamerika interviewt, aber auch Aufnahmen von Gesprächen mit Opfern nationalsozialistischer Gewalt integriert. Hinzu kommen Kompositionen des Musikers Julius Masri, der aus dem Libanon stammt, der wie Ruin aber in Philadelphia lebt und arbeitet. Ruin bezeichnet den auf diese Weise entstandenen multimedialen „chorus of voices“ in einem ebenfalls beiliegenden Booklet als „wailing ode“ und verweist damit zugleich auf sein Selbstverständnis als Performancekünstler. Das Booklet bietet Transkriptionen aller Tonaufnahmen.

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Die Bilder selbst folgen einer alles in allem einfachen Formensprache, die an Holzschnitte erinnert, die aber die dargestellte Gewalt nicht völlig aus ihren historischen Bezügen löst: bis hin zu den Ertrunkenen, deren Körper nur noch schemenhaft fragmentiert im Meer zu erkennen sind. Ja, man kann der Kunsthistorikerin Viola Hildebrand-Schat zustimmen, die diese Sprache einmal mit der Sprache von „Bilderbögen“ verglichen hat. Eine Beobachtung, die auf viele Arbeiten Ruins zutrifft – und die sogar geeignet scheint, das ebenfalls 2019 erschienene Künstlerbuch „Letter from Isolation“ zu charakterisieren, das auf den Briefen Ulrike Meinhofs aus dem „toten Trakt“ der Justizvollzugsanstalt Köln-Ossendorf beruht. Eine Beobachtung zudem, die ohne Frage mit dem Interesse des Künstlers an Puppenspiel, Schattentheater und Scherenschnitt zu tun hat.

„A Threnody for the Dispossessed“ entstand im Rahmen eines transkulturellen Projekts des Swarthmore College in Pennsylvania, das Buchkünstler*innen aus der ganzen Welt zusammenführte, aber auch Dichter*innen umfasste. Die Künstlerbücher, die aus diesem Projekt hervorgingen, sind inzwischen u.a. in Philadelphia und New York ausgestellt worden.

 

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