08. Mai 2024

In der Herzog August Bibliothek befindet sich eine Bibelsammlung, die in ihren Grundzügen auf Herzogin Elisabeth Sophie Marie zu Braunschweig-Lüneburg (1683-1767) zurückgeht. Ab 1714 war Elisabeth Sophie Marie, an der Seite ihres Ehemanns August Wilhelm (1662-1731), regierende Herzogin in Wolfenbüttel. Nach seinem Tod erhielt sie vertragsgemäß den noch nicht fertiggestellten Grauen Hof – das Braunschweiger Residenzschloss – als Witwensitz und begann hier mit dem Aufbau ihrer schon für Zeitgenossen*innen bemerkenswerten Bibelsammlung. Diese Sammlung, aufgestellt in einigen der repräsentativsten Räume des Schlosses, wurde von zahlreichen Personen, Adeligen wie Gelehrten, besichtigt, von denen sich viele in das Besucherbuch der Herzogin eintrugen. Die digitale Edition des Besucherbuchs ist hier einsehbar.

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Besucherbuch Elisabeth Sophie Maries, Einband (oder: digitale Edition des Besucherbuchs, Screenshot) Herzog August Bibliothek, Cod. Guelf. 125.25a Extrav.

Da die Herzogin keine überlebenden Kinder hatte, verfügte sie bereits im Jahr 1764, dass ihre Sammlung von fast 1.200 Bibeln geschlossen in die fürstliche Bibliothek in Wolfenbüttel, die heutige Herzog August Bibliothek, überführt und dort aufgestellt werden sollte. Hier befindet sie sich auch heute noch, vergrößert durch spätere Zuwächse.

Um den Aufbau ihrer Sammlung zu beschleunigen, kaufte Elisabeth Sophie Marie zu Beginn ihrer Sammeltätigkeit in den 1740er-Jahren geschlossene Sammlungen von bürgerlichen Bibelsammlern auf, wenn sich ihr die Gelegenheit bot. Ähnlich gingen auch andere adelige Bibelsammler*innen vor. Herzog Karl Eugen von Württemberg (1728-1793) etwa reiste eigens nach Kopenhagen, um die Bibelsammlung Josias Lorcks (1723-1785) zu erwerben.

Ohnehin war das Sammeln von Bibeln – insbesondere im 18. Jahrhundert in den protestantischen Gebieten Norddeutschlands und Dänemarks – erstaunlich populär. Zuweilen schienen die Sammler*innen selbst erstaunt darüber zu sein. So nannte der sich selbst als „Bibelsammler“ bezeichnende bereits erwähnte Kopenhagener Theologe Josias Lorck seine Gegenwart aus diesem Grund gar „das biblische Jahrhundert“. Der in Wolfenbüttel vor allem als Gegner Lessings im sogenannten „Fragmentenstreit“ bekannte Hamburger Hauptpastor und natürlich auch Bibelsammler Johann Melchior Goeze (1717-1786) schrieb selbstreflektierend über seine Sammeltätigkeit:

So angenehm, so nützlich, so nothwendig in vielen Fällen, eine so viel als möglich vollständige, wenigstens zahlreiche Samlung der seltensten und merkwürdigsten Bibeln (…) so wenig haben sich doch unsre Vorfahren, bis in den Anfang des izt laufenden Jahrhunderts, den Gedanken einfallen lassen, dergleichen zu veranstalten, und die dazu erforderliche Sorgfalt, Mühe und Kosten daran zu wenden. (Goeze, 1777, S. 1)

Dutzende Bibelsammlungen des 18. Jahrhunderts sind nachweisbar, die meisten durch gedruckte Kataloge. Nur wenige dieser Sammlungen sind erhalten, darunter die Sammlung der Herzogin Elisabeth Sophie Marie von Braunschweig-Wolfenbüttel in der Herzog August Bibliothek und die Sammlung von Karl Eugen in der Württembergischen Landesbibliothek in Stuttgart.

Sammlung ist nicht gleich Sammlung – unterschiedliche Arten von Bibelsammlungen: Der Natur der Sammlung entsprechend waren keine dieser Bibelsammlungen als Zusammenstellungen von Büchern identisch und keine von ihnen entstand zufällig als Ansammlung von Bibeln. Wichtig ist auch, dass sie mit unterschiedlichen Ansprüchen der Sammler*innen angelegt wurden: Die meisten der bürgerlichen Sammler*innen, oft mit einem Hintergrund in Theologie und mit sehr beschränktem Budget, betätigten sich im Feld der sogenannten „biblischen Bibliothek“: D. h. sie sammelten zum Beispiel Bibeln in einer bestimmten Sprache und / oder aus einer bestimmten Epoche. Einige legten sogar noch spezialisiertere Sammlungen an, die nur einige Jahrzehnte umfassten oder auf einzelne Druckorte beschränkt waren. Das Ziel dieser bürgerlichen Sammlungen war die wissenschaftliche Auswertung der Sammelobjekte und die Beschreibung ihrer bibliografischen Eigenheiten in Druckpublikationen. Diese Art der Publikation verschaffte ihren Verfasser*innen wissenschaftliche Reputation innerhalb ihrer Fachdisziplin. Um die letztgültige Veröffentlichung zu einem dieser Spezialgebiete publizieren zu können war von Nöten, dass diese Sammlungen in ihrem Segment Vollständigkeit anstrebten, wenngleich sich ihre Besitzer natürlich nie sicher sein konnten, diese auch erreicht zu haben.

Dabei spielte auch das Argument des Augenscheins eine wichtige Rolle. Als Experte oder Expertin anerkannt und für äußerungsfähig angesehen wurde in den Kreisen der Bibelsammler*innen nur jemand, der das entsprechende Buch vor Augen hatte und aufkommende Fragen direkt am Original klären konnte. Dies erklärt auch, warum Sammler*innen zwar manchmal Reisen zu anderen Sammlungen unternahmen oder Exzerpte von einzelnen Exemplaren anforderten, der dauerhafte Zugang zu den Originalen aber dennoch als Ausweis der eigenen Expertise bedeutender blieb. Temporärer Zugang, etwa beim Besuch einer Sammlung oder durch die Auswertung anderer Sammlungskataloge (von denen etwa Goeze, laut des Versteigerungskatalogs seiner Bibliothek nicht weniger als 150 besaß), war lediglich eine Legitimation zweiter Klasse.

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Rekonstruiertes Netzwerk der Bibelsammler*innen um Elisabeth Sophie Marie zu Braunschweig-Lüneburg Rekonstruktion: C. Reimann

Die eigene Sammlung hatte den Vorteil, dass die Sammler*innen in der Lage waren, die Bücher auch tatsächlich zu lesen und zu verstehen – „biblische Bibliotheken“ wurden nur in Sprachen angelegt, derer man mächtig war. Goeze beschreibt das mit der ihm eigenen Deutlichkeit:

Bibeln in solchen Sprachen, die ich nicht verstehe, zu sameln, ist nie mein Zweck gewesen. Wozu hätte ich dieselben nutzen sollen? Ist mir indessen eine oder die andre davon gelegentlich vorgekommen; so habe ich solche mitgenommen. Da aber Samlungen von dieser Art nicht jedermans Sache sind; so verdienen sie dennoch einen großen Ruhm, wenn grosse Herren, oder wenn Gelehrte, welche die damit verbundenen Schwierigkeiten zu haben im Stande sind, dergleichen Samlungen unternehmen. Der Anblick gedruckter Bibeln beynahe in allen bekanten Sprachen des Erdbodens, hat etwas grosses, etwas sehr rührendes und er kann zu den wichtigsten Betrachtungen über die Erfüllungen der göttlichen Verheissungen, und über die Erhaltung und Ausbreitung des Wortes der ewigen Wahrheit wachende Fürsorge Gottes, sehr eindringende Erweckungen geben. (Goeze, 1777, S. X)

Hier weist der Hamburger Theologe bereits auf die zweite Art von Bibelsammlungen hin: Diese anzulegen war – wie auch Goeze betont – jenen Sammler*innen vorbehalten, die über größere finanzielle Mittel und ein großes Netzwerk verfügten. Sie sammelten ohne sprachliche, zeitliche oder geografische Einschränkungen, wobei auch in solchen Sammlungen natürlich Schwerpunkte erkennbar sein konnten. Diese Art Bibeln zu sammeln wurde von Zeitgenoss*innen als genuine „Bibelsammlung“ bezeichnet, im Gegensatz zu den vorher genannten „biblischen Bibliotheken“. Aufgrund des erforderlichen Kapitals waren es oft adelige Sammler*innen, die sich im Anlegen dieser Art von Bibelsammlung hervortaten – wie Elisabeth Sophie Marie, in deren Sammlung zwar die deutschsprachigen Bibeln einen Schwerpunkt bildeten, in der sich aber auch Exemplare auf Arabisch, Isländisch, Ungarisch, Tamil und Walisisch befinden.

Diese Sammlungen wurden ebenfalls katalogisiert und die Kataloge im Druck publiziert – ohne die dadurch erzeugte Öffentlichkeit konnten Sammler*innen nicht erwarten, als „Bibelsammler*in“ anerkannt zu werden. Im Fall der Braunschweiger Sammlung verfasste der zuständige Bibliothekar und Hofprediger Georg Ludolph Otto Knoch (1705–1783) nicht nur den Katalog, sondern auch umfangreiche „historisch-kritische Nachrichten“, in denen er zahlreiche andere Publikationen referenziert.

Zudem ist es ein Charakteristikum vormoderner Bibelsammlungen, dass sie Forschenden zugänglich gemacht wurden. Das konnte durch die Ermöglichung des physischen Zugangs zu den Büchern geschehen, durch die Bereitschaft Exzerpte anzufertigen oder sogar einzelne Exemplare zu verleihen. Zusätzlich gab es auch regelmäßige Briefwechsel zwischen Sammler*innen. Durch die Auswertung dieser Kontakte wird deutlich, dass die Bibelsammler*innen im 18. Jahrhundert ein enges Netzwerk pflegten, bestehend aus persönlichen Kontakten, Briefwechseln und gegenseitigem Zitieren in ihren Publikationen. Es ist dieser Kontakt, in den die Entstehung und zeitgenössische Rezeption der Bibelsammlung Elisabeth Sophie Maries eingeordnet werden muss, von der andere Sammler*innen des 18. Jahrhunderts als „bekanntesten und wichtigsten Bibelschatz“ schrieben.


Titelbild: Selbstinszenierung der Herzogin Elisabeth Sophie Marie als Bibelsammlerin. In: Ludolph Otto Knoch: Bibliotheca Biblica, Braunschweig 1752, Frontispiz, Kupferstich. Herzog August Bibliothek, BA I, 633.

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