17. März 2022
Wörterflut
Im 18. Jahrhundert traf die See mit enzyklopädischer Wucht auf Land. Johann Hinrich Rödings vierbändiges Allgemeines Wörterbuch der Marine in allen europäischen Seesprachen (1793–1798) ist das erste deutschsprachige Werk dieser Art, doch es ist nicht das einzige. Wer im Online-Katalog der Herzog August Bibliothek nachschaut, wird beispielsweise auch das Universal Dictionary of the Marine (1769) des schottischen Dichters William Falconer und das Vocabulaire des termes de marine anglois et françois (1777) des französischen Kolonialbeamten Daniel Lescallier finden. Beide dürften Röding beim Schreiben vor Augen gestanden haben.
Der Pastorensohn hatte die Lateinschule seines Heimatortes Buxtehude an der Unterelbe besucht, jedoch keine Universität. Als Krämer und Teehändler fühlte er sich der Seefahrt eng verbunden. Wie sein Vorwort verrät, war er überaus belesen und korrespondierte mit Gleichgesinnten von London bis Lissabon. So erhielt er Literatur und Informationen, zum Beispiel ein Verzeichnis spanischsprachiger Seeliteratur von einem „Spanier aus der Escurial-Bibliothek“. Vor allem nutzte er aber seine Kontakte zu „Ausländern, die Seeleute von Profession waren“, darunter Italiener, Spanier, Franzosen, Briten, Niederländer und Skandinavier. In der Gegend rund um seinen Laden mitten im Hamburger Hafen begegnete er ihnen wohl täglich.
Die Seeleute bildeten zu dieser Zeit eine große Berufsgruppe – und doch war ihre Lebens- und Arbeitswelt den meisten Menschen fremd. Wenn sich dies nun änderte, trug Rödings Wörterbuch maßgeblich dazu bei. Die dicken Quartbände waren offenkundig nicht für den Bordgebrauch bestimmt. Als Teil eines größeren Projekts erschienen sie zusammen mit dem Allgemeinen Polyglotten-Lexicon der Naturgeschichte (1793–1798) des umtriebigen Juristen, Enzyklopädisten, Übersetzers und Reiseschriftstellers Philipp Andreas Nemnich. Nemnich konnte zunächst auch den Verleger Gebauer in Halle an der Saale gewinnen, später ließ er die Wörterbücher in Hamburg selbst drucken. Das Allgemeine Wörterbuch der Marine fand nicht zuletzt an küstenfernen Orten Anklang: In der Subskriptionsliste erscheinen die Literarische Gesellschaft zu Altenburg, die Berliner Gesellschaft Naturforschender Freunde, Buchhandlungen von Basel bis Kopenhagen, zahlreiche Lesegesellschaften sowie Universitäts-, Stadt-, Rats-, Schul- und Kirchenbibliotheken – auch die „herzogliche Bibliothek“ in Wolfenbüttel. Unter den erwähnten Einzelpersonen sind neben angesehenen Hamburger Bürgern und Bürgerinnen zahlreiche Adelige, Professoren, Juristen, Geistliche, Kriegsräte, Diplomaten, Kammerherren und ein „Schauspiel-Director“, darunter Frauen wie das „Fräulein von Frankenberg“ und „Madame Rahusen, geb. Roosen“.
Vorangestellt ist dem Allgemeinen Wörterbuch eine kommentierte und durch Namens- und Sachregister erschlossene Bibliografie. Thematisch relevante Abhandlungen aus den Publikationen der britischen, schwedischen, niederländischen und russischen wissenschaftlichen Akademien sind darin gesondert aufgeführt. Das Wörterverzeichnis enthält „Kunstwörter“ in acht Sprachen aus Themenbereichen wie Handels- und Frachtschifffahrt, Schiff- und Bootsbau, Seekrieg, Nautik und Seerecht. Vor allem war Röding an den maritimen Gewerken gelegen: „Reepschlägerkunst, Segelmacherkunst, Blockdreherkunst, &c.“ Der vierte Band mit 115 Tafeln zeigt Kupferstiche von Schiffen und speziellen Gerätschaften.
Mit diesen mussten Rödings weitgereiste Informanten ständig umgehen, und gewiss war das Wörterbuch nützlich bei der Ausbildung der Seeleute. Doch ausdrücklich versicherte Röding: „In der bei jedem Worte befindlichen Erklärung habe ich mich bemühet, mich so deutlich und verständlich auszudrücken, dass auch jeder der nicht Seemann ist, die Sache wird verstehen können.“ Warum aber sollte ein binnenländisches Laienpublikum nachschlagen, wie die „Voroberbramtoppenants“, die „Puttings der Marsjungfern“ oder ein „gestroppter Violblock“ aussahen? Warum sollte es sich dafür interessieren, wie die Hängematten der Matrosen beschaffen waren oder was es bedeutete, „See-Füsse“ zu haben?
Die Frühe Neuzeit: Eine maritime Epoche
Rödings Werk ist ein anschauliches Beispiel für die frühneuzeitliche Erschließung neuer Wissensräume, konkret: maritimer Räume. Dieses Phänomen beleuchtete auch eine Tagung der Arbeitsgemeinschaft Frühe Neuzeit im Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands, deren Ertrag nun in dem Band Das Meer. Maritime Welten in der Frühen Neuzeit versammelt ist. Denn das wachsende Interesse am Meer war ein Spezifikum der Zeit seit 1500, ja: Die Frühe Neuzeit kann als maritime Epoche schlechthin gelten.
Fernab der Küsten, an Orten wie der Herzog August Bibliothek, finden sich dafür zahlreiche Indizien, etwa in Portolankarten (frühen Seekarten) der herzoglichen Kartensammlung oder in Reiseberichten, die – das zeigen die Ausleihregister der Herzog August Bibliothek – besonders im 18. Jahrhundert fleißig gelesen wurden. Nicht zuletzt finden sich in der frühneuzeitlichen Druckgraphik zahlreiche Darstellungen von Schiffbrüchen und einsamen Inseln. Auch in der Emblematik sind maritime Bildmotive breit vertreten. Ihnen war im Zusammenhang mit der Tagung eine eigene Ausstellung gewidmet, die nun in der Reihe „Wolfenbütteler Hefte“ unter dem Titel Seewege und Küstenlinien. Maritime Welten in der Herzog August Bibliothek dokumentiert ist.
Dass die Frühe Neuzeit eine maritime Epoche war, hängt mit technologischen und geopolitischen Entwicklungen zusammen, aber auch mit einem Wandel der Wahrnehmung. In der Antike und im Mittelalter hatten die Ozeane eine mentale „Schranke“ gebildet, deren Passieren eine Grenzverletzung darstellte; nun schien es möglich, sie zu überwinden. Nicht selten wurde die risikoreiche Seefahrt mit Wohlstand und Wissensgewinn belohnt. Was jenseits der Meere lag, verhieß eine bessere Zukunft, inspirierte bisweilen sogar utopisches Denken.
Um den epochalen Eigenwert der Frühen Neuzeit zu bestimmen, verweisen Historiker und Historikerinnen auch auf die europäische Expansion, die weitgehend auf dem Seeweg stattfand. Die transozeanische Mobilität nahm in dieser Zeit spürbar zu. Dadurch konnte man in Europa mehr über ferne Kontinente und über die Meere dazwischen erfahren als je zuvor.
Zudem entstanden durch die Seefahrt viele für die Globalisierung wichtige Kontakte zu fremden Kulturen: Das Meer wurde ein Begegnungsraum. So zeigt Rödings Tafelband neben einer „Holzgelle oder Kahn auf der Ober-Elbe“ auch außereuropäische Schiffstypen wie „ein Djerm auf dem Nil“ oder „ein doppeltes Piroge zu O-Taïti gebräuchlich“. Sein vielsprachiges Werk diente als Nachschlagewerk für zahlreiche Übersetzungen. Besonders in der beliebten Reiseliteratur wurde die „Seesprache“ ausgiebig verwendet. Offenbar war das Wörterbuch so nützlich, dass Nemnich 1815 auch eine englische Version auf den Markt brachte.
Rödings Wörterbuch zeigt indessen auch die Kehrseite des europäischen Vordringens in maritime Räume. So verzeichnet es den „Asiento de Negros“, einen Vertrag, der es Sklavenhändlern ermöglichte, zahlreiche Menschen aus Afrika in die spanischen Kolonien zu verschleppen. Wie die gewaltsamen Sklaventransporte waren die immer häufiger global geführten Seekriege ein Teil der europäischen Expansion – auf den Seiten des Wörterbuchs nehmen sie viel Raum ein. Schließlich begann mit der Überquerung der Ozeane auch der „Columbian Exchange“, der Waren wie den Tee nach Europa brachte. Dort verbesserte dieser biologische Austausch zwar die Ernährungslage; zugleich aber ermöglichte er die Verbreitung von Krankheiten, die viele Menschen außerhalb Europas das Leben kosteten. Nicht zuletzt zog er folgenreiche Veränderungen der natürlichen Umwelt nach sich.
Röding und sein zeitgenössisches Publikum waren fasziniert vom Meer und von allem, was dazugehörte. Diese Faszination ist heute ein zentrales und zukunftsträchtiges Feld der Frühneuzeitforschung.
PURL: http://diglib.hab.de/?link=133
Abbildung: "Eine Chinesische Junke", Johann Hinrich Röding, Allgemeines Wörterbuch der Marine in allen Europaeischen Seesprachen: nebst vollständigen Erklärungen; mit Kupfern, 4 Bde., Hamburg/Halle 1793-98, Bd. 4: CXV. Kupfertaf. nebst einer Erklärung der darauf befindl. Figuren, Tafel LXXXVI, F. 502, Herzog August Bibliothek, M: Jd 24:4.
Die Autorin
PD Dr. Sünne Juterczenka ist Historikerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Kulturgeschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit im Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte an der Georg-August-Universität Göttingen. Sie erforscht unter anderem maritime Geschichte und Wissensgeschichte. Dabei interessieren sie vor allem kulturelle Kontakte, Transfers und Verflechtungen.
Mehr...