05. Mai 2021

 

1694 übernahm der fünfundzwanzigjährige Sturm die Mathematikprofessur an der Ritterakademie Rudolph-Antoniana, die vakant geworden war. Zu seinen Aufgaben gehörten auch Vorlesungen zur Zivil- und Militärbaukunst, die damals zur praktischen Mathematik gezählt wurde.

Sturms Einstellung zu Wolfenbüttel war ambivalent, wie er in einem Brief an August Hermann Francke vom 13. Juni 1701 anmerkte: „Wiewohl ich gantz ruhig Gottes Schickung abwarten will, dem es gedanckt seÿ, daß ich hier eine schöne besoldung, Vergnügliches auskommen und eine gnädige Herrschaft habe und mich über nichts mehr zu beklagen habe, als über mangel Gottgefälliger gesellschaft und Zeitverkürtzung in der conversation.“

Brief von Sturm an Monsieur Augouste Hermann Francke
Sturms Brief an August Hermann Francke

Einerseits fehlte dem ehrgeizigen jungen Professor in der kleinen Residenzstadt die akademische Herausforderung. Ferner missfiel ihm die seit dem Pietistenedikt von 1692 geltende Gesinnungszensur, die alle Personen im öffentlichen Dienst betraf, also auch ihn. Andererseits war der Standort Wolfenbüttel für ihn ein Glücksfall, denn die Verfügbarkeit von Büchern und wissenschaftlichen Instrumenten für die Lehre und den eigenen Gebrauch war dank der berühmten herzoglichen Bibliothek vor Ort gesichert.

Die Ausleihbücher, die die Wolfenbütteler Bibliothek seit 1664 kontinuierlich geführt hat, verraten tagesgenau die Zugriffe der Benutzer*innen. Sturm gehörte in seiner Wolfenbütteler Zeit zu den häufigsten  und dankbarsten Benutzern der Bibliotheca Augusta, die während des Bestehens der Ritterakademie (1687−1713) zugleich akademische Bibliothek war. Als Professor der herzoglichen Lehranstalt wie als Privatmann entlieh er insgesamt 391 Bücher, manche mehrmals. Interessanterweise hält sich der Anteil an mathematischen Büchern in Grenzen, was vielleicht mit dem Vorhandensein relevanter Werke in seiner Privatbibliothek zusammenhängt. Umfangreich sind die Ausleihen aus der Sachgruppe „Architektur, Geometrie und Ingenieurskunst“ mit vielen Klassikern, zudem aus der Rubrik „Militaria“ mit einschlägigen Titeln zum Festungsbau. Auch der theologische Anteil ist signifikant, wobei das Thema Religion erst in seinen letzten drei Jahren vor Ort Gegenstand seiner intensiven Beschäftigung geworden zu sein scheint. Nicht zuletzt machte Sturm von der Möglichkeit Gebrauch, einen Erdglobus sowie astronomische und geometrische Instrumente aus dem herzoglichen Sammlungsbestand in die Akademie mitzunehmen und im Unterricht zu verwenden.

Eine Seite aus dem Ausleihbuch (Bibliotheksarchiv HAB | Bibl.A. 1,1 Registraturbuch 1664-1697)
Eine Seite aus dem Ausleihbuch (Bibliotheksarchiv HAB | Bibl.A. 1,1 Registraturbuch 1664-1697). Am 8. Okt. 1694 entleiht Sturm La Ramée, Pierre de: Scholarum mathematicarum libri 31. Frankfurt/M. 1627. - 17.1 Quod.4°

Der Umfang von Sturms privatem Buchbesitz lässt sich für seinen Aufenthalt an der Oker nur grob schätzen. Die 20 Blätter umfassende Inventarliste, die sich im Archiv der Herzog August Bibliothek erhalten hat (Signatur BA I 673), bildet nämlich den Bestand der Privatbibliothek am Ende seines Lebens ab. Als er 1719 fünfzigjährig in Blankenburg im Harz starb, zählte seine Sammlung immerhin an die 500 Einzeltitel, darunter Streitschriften, Tafelwerke, Landkarten und Dissertationen sowie Bild- und Sammelbände.

Catalogus: Die erste Seite der Inventarliste zu Sturms Privatbibliothek
Die erste Seite der Inventarliste zu Sturms Privatbibliothek.

Die Mehrzahl der Einträge in der Inventarliste gehört in die Sparte der sogenannten Wissensliteratur mit den Schwerpunkten „Architektur/zivile und militärische Bau- und Ingenieurskunst“ und „Astronomie/Mathematik/Geometrie“. Vertreten sind die bekannten Autorennamen der genannten Disziplinen zuzüglich einschlägiger Werke von Sturm selbst. Ferner sind Titel gelistet, die sich der Gruppe „Geographie/Topographie/Landes- und Reisebeschreibung“ zuordnen lassen. 140 Nummern entfallen auf theologische Bücher, darunter Leuchttürme der pietistischen Glaubensbewegung sowie Schriften weiterer einschlägiger, zum Teil chiliastischer Autor*innen. Auch in dieser Sektion finden sich Texte aus Sturms Feder, in denen er um die richtige Auslegung der göttlichen Offenbarung ringt, wobei er teilweise auf mathematische Verfahren für die Beweisführung zurückgreift. Die Einträge auf den letzten drei Seiten des Inventars schließlich ergeben ein kleines, feines Instrumentenkabinett. Es sind Gerätschaften angeführt, die dem technischen Zeichnen und der optischen Zurüstung dienen, zum Beispiel „ein groß und ein klein speculum causticum“ [Brennspiegel], „ein Hohl Spiegel“, „ein Microscopium in holtz gefaßet“, anderes mehr.

Leonhard Christoph Sturm war enorm produktiv, mindestens 40 Traktate zur Architekturtheorie hat er verfasst, Schriften mit theologischen Themen, Disputationen und Beiträge zur Mathematik, Museologie avant la lettre und Adelserziehung kommen hinzu. Während Sturm als Mathematiker und Baudirektor in verschiedenen Anstellungen stand, hat er selbst nur ganz wenige Bauprojekte realisiert. Dieses Manko war ihm bewusst und er hat es in seinen Schriften mehrfach benannt und bedauert. Beachtenswert ist ferner sein parallel zu diesen Einsätzen mit vergleichbar hohem Sachverstand geführter theologischer Diskussions- und Publikationseifer. Das temperamentvolle Wesen Sturms, den nicht zuletzt die von ihm so empfundene religiöse Laxheit der Welt existentiell aufregte und beunruhigte, lässt sich auch in seiner Korrespondenz mit Zeitgenossen – unter ihnen Gottfried Wilhelm Leibniz, August Hermann Francke und Gottfried Kirch (1639–1710) – beobachten.

Sturms Ausdrucksweise lässt dabei auf einen zwiespältigen Charakter schließen. So bekundet er oft dankbare Demut vor Gott und bemüht den Schöpferherrn als Erklärung für sein Tun und Können („Dann es ist gewiß, daß ein Mensch nichts eigenthümliches hat, welches er nicht von GOtt empfangen habe“), brüstet sich aber im gleichen Augenblick mit seiner individuellen Kompetenz, was nicht selten widersprüchlich, ja anmaßend wirkt („Nachdeme ich die unstreitig beste Manier zu fortificiren an den Tag gegeben“). Tritt er in seinem Schreiben durchaus höflich und distinguiert auf, gebraucht den Bescheidenheitstopos und betont die eigene Fehlbarkeit („Darum ich den Leser freundlich will gebeten haben, seine Bedenken mit mir freundlich zu communiziren ... ich mir es gar für keine Schande achte ein Mensch zu seyn, das ist, zu irren“), frappiert das Hervorbrechen einer Streitlust, gepaart mit Rechthaberei: „Nun ist dieses Urtheil [gemeint ist ein Gegenargument, wahrscheinlich aus der Feder des berühmten Hallenser Professors für Mathematik und Philosophie, Christian Wolff] wohl also beschaffen, daß es weder mir noch meiner Sache den geringsten Abtrag thun kan“.

Mit seinen bautechnischen Ideen und Entwürfen im zivilen und militärischen Bereich wie mit seinen Interventionen in Glaubensfragen machte sich Sturm einen Namen, der nicht unumstritten war. Die intensive Benutzung der öffentlichen Bibliothek in Wolfenbüttel, der persönliche Buchbesitz, das umfangreiche eigene Œuvre, einschließlich akkurater technischer Zeichnungen weisen Leonhard Christoph Sturm als Architekturtheoretiker, Kulturtechniker und streitbare öffentliche Person von Rang im frühen 18. Jahrhundert aus.

 

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