13. Juni 2023

Sogleich stellte sich die Frage nach der Finanzierung des Ankaufs. In großzügiger Weise war die Gesellschaft der Freunde der HAB e.V. (GdF) bereit, die Kosten für die Erwerbung zu bestreiten, so dass die Herzog August Bibliothek bei der Versteigerung am 28. März 2023 erfolgreich mitbieten konnte. Für etwas über 28.000 Euro ging der Brief in den Besitz der HAB über. Der GdF ist für die bedeutendste Erwerbung eines Lessingautographs seit 15 Jahren zu danken. Der Brief wird nun unter der Signatur Lessingiana XLIV aufbewahrt und steht bereits digitalisiert online zur Verfügung.

Mehr als zweihundert Jahre war der kostbare Brief im Besitz von privaten Sammlern. Nach dem Tod Dorothea Salome Lessings im Jahr 1803 gelangte er an die befreundete Familie Mendelssohn Bartholdy. Der Inhalt des Schreibens war der Lessingforschung zwar bekannt, der Text in den großen Lessing-Ausgaben von Lachmann/Muncker und W. Barner auch schon abgedruckt. Auch im Gesamtverzeichnis der Lessinghandschriften von W. Milde aus dem Jahr 2016 ist der Brief verzeichnet. Aber ein solch eigenhändiges Schriftstück gibt durch seine Materialität auch unmittelbaren Aufschluss über seine Entstehung. Das Autograph zeigt, wie Lessing mit der Feder seine gleichmäßige, leicht dahinfließende und gut lesbare Schrift auf den Briefbogen aus dünnem Hadernpapier brachte.

Worum geht es in diesem Brief? – Lessing schreibt am 20. März 1777 in Wolfenbüttel an seine Schwester Dorothea Salome im heimatlichen Kamenz. Wenige Tage zuvor hatte ihn nach der Rückkehr von einer Reise nach Mannheim ein Brief der Schwester mit der Nachricht vom Tod der Mutter am 7. März erreicht. Nach längerer Krankheit war sie im Alter von 73 Jahren sieben Jahre nach ihrem Mann gestorben.

Lessing wohnte damals seit einigen Monaten mit seiner Frau Eva König (sie hatten im Oktober 1776 endlich heiraten können) im heute so genannten Meißnerhaus am Schlossplatz. Es mag in familiärer Hinsicht tatsächlich sein glücklichstes Jahr gewesen sein, wie es auf einer Gedenktafel am Haus heißt. Beruflich allerdings war Lessing damals nicht sehr zufrieden, denn er hoffte, am neu zu gründenden Nationaltheater in Mannheim eine gut dotierte Stelle zu finden, weshalb er Anfang des Jahres in die kurpfälzische Residenzstadt reiste. Doch der Plan zerschlug sich zu seiner Enttäuschung und Lessing blieb als Bibliothekar an der herzoglichen Bibliothek in Wolfenbüttel.

Seiner zwei Jahre älteren Schwester schreibt Lessing, wie sehr ihm der Verlust der Mutter nahegeht. Auf lange Klagen verzichtet er, denn er weiß, dass Dorothea seine Liebe für die Mutter kennt. Die beiden Geschwister standen von Kindheit an in sehr engem Einvernehmen. Stattdessen dankt er ihr für die aufopferungsvolle Pflege, mit der sie die letzten Lebensjahre der Mutter erträglich gemacht habe – dieser Dank sei die beste Form der Klage –, schickt ihr etwas Geld, um die Kosten des Begräbnisses zu bestreiten, und kündigt weitere finanzielle Unterstützung an. Lessing macht nicht viele Worte über seine Trauer, sondern erweist sich als Praktiker, dem eine gute Tat wichtiger ist als viele gute Worte. Dann kommt er auf seinen jüngeren Bruder Theophilus zu sprechen, der seiner Frau brieflich einen Besuch in Wolfenbüttel angekündigt hatte. Lessing fragt voller Vorfreude nach – er hofft sehr auf den Besuch, der dann zu Ostern auch tatsächlich stattfand. Theophilus war damals Konrektor der Schule in Pirna und nahm die unverheiratete Schwester wenig später bei sich auf. Mit den Grüßen seiner Frau und der Beteuerung unverbrüchlicher Treue beschließt Lessing seinen kurzen Brief.

Das neu erworbene Autograph ergänzt den in der HAB vorhandenen Bestand an Lessingbriefen in hervorragender Weise. Er stellt ein Pendant zum frühesten erhaltenen Brief Lessings dar, den der damals Vierzehnjährige 1743 an seine Schwester schrieb, als er in Meißen die Schule besuchte. Diesen Brief konnte die HAB bereits 1990 erwerben (Lessingiana XXXVII). Beide Briefe zeigen Lessing von einer sehr persönlichen Seite und zeugen von einer engen Verbundenheit mit seiner Familie und der Fürsorge für seine Schwester.

Der Brief im Wortlaut:

Meine liebe Schwester,

Wie sehr mich die Nachricht in deinem letzten Briefe gerührt hat, brauche ich dir nicht zu sagen. Denn so gar schlecht bin ich bey dir nicht angeschrieben, daß du von meiner Liebe gegen unsere seel. Mutter, nur erst durch Klagen über ihren Tod überzeugt werden müßtest. Die beste Art über sie zu klagen, glaube ich, ist, dich nicht zu vergessen, die du ihr die letzten Jahre ihres Lebens so erträglich gemacht hast, indem du dich für uns alle deiner Pflicht aufgeopfert. Nimm indeß gegenwärtige Kleinigkeit, die du vielleicht zu den Kosten der Leichenbestattung noch wirst nöthig haben, u. sey versichert, daß bald mehr folgen soll.

Was macht Theophilus? Er hat an meine Frau in meiner Abwesenheit geschrieben, u. Hoffnung gemacht, uns diese Ostern zu besuchen. Er hält doch noch Wort? Wir erwarten ihn alle Tage mit Ungeduld.

Meine Frau grüßt dich bestens, u. ich bin lebenslang

Dein

treuer Bruder

Gotthold

Wolfenbüttel

den 20 März 1777

 

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