09. Januar 2024


Eine Reihe von Publikationen sind seit dem Ableben Le Carrés erschienen, die bestätigen, dass den Autor und seine Romanfiguren auch jenseits ihrer linguistischen Fähigkeiten etliche Eigenschaften verbanden. Unter anderen teilten sie eine tiefsitzende Neigung zu Verheimlichung und Betrug kombiniert mit dem Drang, zu fliehen und die eigenen Spuren zu verwischen. In der Welt der Spionage sind das offensichtlich nützliche, wenn nicht gar essentielle Kompetenzen, die jedoch im normalen Leben verheerende Auswirkungen haben können, wie sowohl seine Romanfiguren als auch der Autor selbst erfahren mussten. 2022 erschien die von seinem Sohn Simon Cornwell herausgegebene erste Auswahl aus der umfangreichen Korrespondenz Le Carrés, A Private Spy: The Letters of John le Carré 1945-2020. Einer der hier vertretenen Briefpartner ist der Schriftsteller und Schauspieler Stephen Fry. Fry erlitt 1995 einen Zusammenbruch, der ihn zwang, England nach nur drei Aufführungen in der Hauptrolle einer Londoner Theaterproduktion in Richtung europäisches Festland zu verlassen. In einem Brief an Fry im Mai 1995 gab Le Carré dem Geflüchteten Ratschläge über das, was er „das Geschäft des Untertauchens“ nannte. Er schlug vor, Fry solle nach Florida fliegen, wo er Le Carrés Kontakte nutzen könnte, um „zu unglaublichen Kosten“ eine Yacht zu mieten und in den Bahamas um die Inselgruppe der Exumas zu segeln. Der Idee von Fry selbst, dass Deutschland ein geeignetes Schlupfloch sein könnte, begegnete Le Carré teils mit Faszination, "dass Dich in dem Moment die deutsche Muse gelockt habe", aber teils auch mit Skepsis. Er schrieb:

Ein weiterer Punkt zum Thema Flucht, und ich spreche als ein ziemlicher Künstler auf diesem Gebiet, wenn auch als gescheiterter, ist, dass Deutschland auf Dauer nicht lustig genug ist. Mag sein, dass es ein paar Lacher in Osnabrück gibt, aber ich habe sie nie gehört. Husum, auch arm an Gelächter; Oldenburg frostig. Ich glaube doch, dass Du vielleicht ein Leben in München aufbauen könntest (aber Du wärest zu sichtbar), oder Du könntest es schlechter treffen als Wolfenbüttel, wo die Herzog Albrecht [sic] Bibliothek Dir sicherlich eine Benutzerkarte oder so etwas ausstellen würde, und in der Bibliothek kommst Du dem Himmel am nächsten. Was die Leute angeht, da bin ich mir nicht so sicher. Aber sie kamen mir nett und verrückt vor.

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Eintrittskarte zur Lesung von John le Carré.

Durch einen ihrer berühmtesten Benutzer, den Verführer und Bibliothekar Giacomo Girolamo Casanova genießt die Wolfenbütteler Bibliothek einen historischen Ruf als Zufluchtsort. Im Mai 1764, nachdem ihm vorgeworfen wurde, in Braunschweig versucht zu haben, einen Kreditbrief unter falschem Namen einzulösen, floh Casanova heimlich ins nahegelegene Wolfenbüttel. Er mietete sich im Gasthaus Zur Spanischen Krone ein und verbrachte eine Woche inkognito im Lesesaal der Bibliotheca Rotunda, wo er Handschriften studierte. Er erzählt die Episode in seinen Memoiren, Histoire de ma Vie, wo seine Beschreibung sich in weiten Teilen mit der Einschätzung Le Carrés, die Bibliothek wäre "dem Himmel am nächsten", deckt:

Ich verlebte acht Tage ohne [die Bibliothek] je zu verlassen, außer um zu meinem Zimmer zurückzukehren, und mein Zimmer verließ ich nur, um wieder dorthin zu gehen. Ich lebte im vollkommenen Frieden, ohne je an die Vergangenheit oder die Zukunft zu denken, meine Arbeit hinderte mich daran zu wissen, dass irgend etwas außerhalb der Gegenwart existierte.

Im Gegensatz zur Karibik war Wolfenbüttel nicht einer der persönlichen Zufluchtsorte Le Carrés, aber zwei Jahre vor dem Briefwechsel mit Stephen Fry hatte er in Begleitung seines jüngsten Sohnes die Herzog August Bibliothek besucht. Sein Roman The Night Manager war gerade erschienen, und er war auf dem Weg nach Moskau, um Recherchen für ein neues Projekt zu unternehmen. Am Abend des 17. August 1993, hielt Le Carré in der überfüllten Augusteerhalle eine Lesung aus verschiedenen Romanen ab. In dem Einladungsschreiben wurde seitens der Bibliothek betont, dass sich in Wolfenbüttel die größte Sammlung der Erstausgaben von Werken zweier Autoren, mit denen Le Carré sich im Studium in Oxford befasst hatte, befanden. Es handelte sich um Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen, berühmt für seinen pikaresken Roman Simplicissimus, und Adam Olearius, dessen 1647 erschienene Beschreibung seiner Reise nach Moskau und Persien im 17. Jahrhundert zum europäischen Bestseller wurde.

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Titelkupfer zu Adam Olearius, Offt begehrte Beschreibung Der Newen Orientalischen Reise, Schleswig 1647.

Als junger Germanistikstudent in Oxford hatte David Cornwell, wie sein Romanheld George Smiley, kurz mit dem Gedanken gespielt, mit einer Dissertation zur deutschen Barockliteratur eine Universitätslaufbahn einzuschlagen, bevor er von der „Welt des Geheimen“ angeworben wurde, die ihm den Stoff für seine literarischen Werke lieferte. In Le Carrés erstem Roman Call for the Dead (1961) reicht George Smiley seine Kündigung ein und geht nach Hause, um „den Nachmittag damit zu verbringen, Olearius über den russischen Kontinent zu verfolgen“. In Tinker, Tailor, Soldier, Spy (1974) beschließt Smiley, sein Exemplar von Simplicissimus einem Antiquar zu verkaufen, weil seine untreue Ehefrau sein Bankkonto geplündert hat, wohingegen der Verräter Magnus Pym, den Smiley in A Perfect Spy (1986) aufspürt, sein schäbiges Exemplar des gleichen Romans als Chiffrierschlüssel für die Kommunikation mit seinem östlichen Führungsoffizier nutzt.

Während seines Besuches in Wolfenbüttel habe ich Le Carré und seinen Sohn Nick durch die Bibliotheksmagazine geführt, wo wir verschiedene Exemplare der für seine Romane so wichtigen Werke von Grimmelshausen und Olearius angeschaut haben. Als Studentin in England hatte auch ich einmal geplant, eine Dissertation über Olearius zu schreiben und hatte antiquarisch eine englische Übersetzung mit Auszügen aus dessen Reisebeschreibung gekauft. Da ich jetzt an einer der besten Bibliotheken für die deutsche Frühe Neuzeit arbeitete, spürte ich keine Notwendigkeit das Buch zu behalten und brachte es von zuhause mit, um es Nick Cornwell auf die Reise mit seinem Vater nach Moskau mitzugeben.

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Das von John le Carré am 17. August 1993 benutzte Notizheft.

Im Gegenzug schenkte mir John le Carré spontan ein Ringbuch mit den Texten seiner Lesung des Vortags, und beschriftete es mit den Worten: „So bereiste ein unzulänglicher Olearius am 17. August 1993 seine eigene kleine Welt in Wolfenbüttel. David (auch bekannt als) John le Carré." Auf die Leerseiten des Notizhefts hatte der Autor herausgetrennte Seiten aus seinen Romanen geheftet und diese mit handschriftlichen Überleitungstexten zu einer Art Drehbuch für den Abend verbunden. Das Heft wurde der Herzog August Bibliothek dreißig Jahre später, im Dezember 2023, überreicht und ist nun Teil der Sondersammlungen.


Titelbild: John le Carré in der Augusteerhalle der Bibliotheca Augusta am 17. August 1993.


Die Autorin

Dr. Jill Bepler war bis 2018 Leiterin der Abteilung Wissenschaftliche Veranstaltungen und Stipendien an der Herzog August Bibliothek. Sie ist Mitglied im Vorstand der Gesellschaft der Freunde der HAB.

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