05. April 2022

Die Anfänge der älteren Wolfenbütteler Hofbibliothek reichen bis ins Jahr 1550 zurück. Damals kaufte Herzog Julius von Braunschweig-Lüneburg (1528–1589) auf einer Studienreise in Frankreich seine ersten Bücher – nicht etwa Fachliteratur, sondern Ritterromane. Als er 1568 die Regierung des Herzogtums Wolfenbüttel übernahm, wurde seine inzwischen beträchtlich vergrößerte Büchersammlung ein wichtiger Bestandteil der fürstlichen Hofhaltung und Repräsentation. Die Einführung der protestantischen Reformation ließ den Bücherschatz des Regenten nochmals anwachsen: Zwischen dem 14. März und dem 24. April 1572 wurden aus den Frauenklöstern in Wöltingerode, Steterburg, Lamspringe, Heiningen, Dorstadt, Brunshausen und Marienberg bei Helmstedt zahlreiche mittelalterliche Handschriften, Inkunabeln und Frühdrucke in die Residenz gebracht.

Diese Entwicklungen erforderten nunmehr eine professionelle Verwaltung der Büchersammlung. Zunächst stellte Herzog Julius am 30. Dezember 1571 den Kantor und Komponisten Leonhard Schröter als Bibliothekar ein. Welche Aufgaben er in seinem Dienst zu verrichten hatte, ist in der endgültigen Fassung der „Liberey-Ordnung“ vom 5. April 1572 festgelegt. Sie ist kein allgemein gehaltenes Dokument, sondern direkt und persönlich an den „Bibliothecarius“ gerichtet. Leonhard Schröter dürfte daher auch das von Herzog Julius eigenhändig unterzeichnete und gesiegelte Original erhalten haben. Der heute vorliegende Text ist durch einen Kanzleivermerk als Kopie ausgewiesen, die in der den Bibliothekar betreffenden Akte (Staatsarchiv Wolfenbüttel, 3 Alt Nr. 50, Bl. 12r–15v) abgelegt wurde.

Die „Liberey-Ordnung“ regelt detailliert in zehn Abschnitten die Aufgaben des Bibliothekars und ist daher vor allem der Katalogisierung des Bestandes und seiner Benutzung gewidmet. Die grundlegende Entscheidung, welche Bücher neu angeschafft werden sollten, hatte sich dagegen der fürstliche Besitzer selbst vorbehalten und wurde daher nicht genauer erörtert. Leonhard Schröter sollte persönlich in den Räumen der Bibliothek im Untergeschoss des alten Kanzleigebäudes östlich des Schlosses anwesend sein und die dienstliche Korrespondenz führen (Punkt 1). Zu seinen Pflichten gehörte es auch, die in Schränken aufbewahrten Bücher einmal wöchentlich zu reinigen (Punkt 4).

Auf die Ordnung und Erfassung der Bücher legte der Herzog besonderen Wert. Schröter sollte sie mit einer Blattzählung versehen (Punkt 7), den Titel in deutlich lesbaren Großbuchstaben auf die Bücher schreiben und sie mit aufsteigenden Nummernsignaturen kennzeichnen (Punkt 2). Anhand dieser Angaben waren alle Bände in einem „gemein Inventarium“ in Gestalt eines Standortkatalogs zu erfassen (Punkt 3). Schließlich forderte der Herzog eine genaue Aufstellung der Dubletten (Punkt 5); wahrscheinlich um die „abundanten“ (überflüssigen) Stücke gegen neue Bücher einzutauschen.

Die Benutzung der Bibliothek und die Ausleihe von Büchern erfolgte allein auf ausdrücklichen schriftlichen Befehl des Herzogs. Der Bibliothekar war gehalten, die ausgeliehenen Bücher und ihre Leihfristen in einem eigenen „Quitanzbuch“ zu verzeichnen, sie rechtzeitig zurückzufordern und die Rückgaben auf Vollständigkeit und Unversehrtheit zu überprüfen (Punkt 6–8). Auch eine Besichtigung der Bibliothek vor Ort blieb den vom Herzog selbst ausgewählten Personen, in der Regel Gelehrten und Adligen, vorbehalten. Sie durften die Räumlichkeiten allerdings nur ohne Messer und lange „uberkleidung“ betreten, „damit uns nicht geschehe, in unser Bibliotheca und an unsern buchern, wie an etzlichen ortten Illyricus gethan haben soll“. Die Besucher sollten also keine Gelegenheit finden, nach dem zweifelhaften Vorbild des Gelehrten Matthias Flacius Illyricus (1520–1575) Bücher aus der Bibliothek zu entwenden oder zu beschädigen (Punkt 9). Mit der eidlichen Verpflichtung Schröters, die vom Herzog gegebenenfalls zu ändernden oder zu ergänzenden Anweisungen gewissenhaft zu befolgen (Punkt 10), schließt das durch Unterschrift und Siegel beglaubigte Dokument.

Erst durch Wachstum, planvolle Verwaltung, Ordnung und Benutzung wird aus einer zufällig entstandenen Büchersammlung eine Bibliothek. Die „Liberey-Ordnung“ markiert in Wolfenbüttel den Beginn dieser Entwicklung – dass es zum Teil noch längere Zeit dauerte, bis die Anordnungen des Herzogs in die Tat umgesetzt wurden, ist bekannt: Die Aufstellung der mit Signaturen und Titelbeschriftungen versehenen Bücher nach einer wissenschaftlichen Systematik und ihre Erfassung in einem Gesamtkatalog konnte erst 1614 Schröters Nachfolger Liborius Otho vollenden. Dass Herzog Julius durch diesen Verwaltungsakt seine Privatsammlung zu einer Bibliothek umgestaltet und sie damit kulturell aufgewertet hatte, war seinen Zeitgenossen dagegen unmittelbar bewusst. Am 25. Juni 1573 schenkte Landgraf Wilhelm IV. von Hessen-Kassel (1532–1592) dem Herzog ein prachtvoll ausgestattetes Evangeliar (Cod. Guelf. 65 Helmst.) mit dem ausdrücklichen Vermerk, der kostbare Band sei „zur Zierde [der von] Seiner Fürstlichen Gnaden neu gegründeten Bibliothek“ bestimmt. Die „Liberey-Ordnung“ darf daher zu Recht als Geburtsurkunde der Herzog August Bibliothek bezeichnet werden.

 

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Abbildung: »Vnser von Gotts gnaden Juliussen Hertzogen zu Braunschweig
vnd Luneburg Verord[n]ung, wie wir mit gnaden gehabt haben
wollen, das sich vnser Bibliothecarius diener vnd lieber getrewer
Leonhartt Schroter in vnser biblioteck beÿ seinen Pflichten vnd
Ayden halten soll.« Anfang der »Libereyordnung« des Herzogs
Julius zu Braunschweig und Lüneburg im Niedersächsischen
Landesarchiv Abteilung Wolfenbüttel (Bl. 12r).


 

Der Autor

Bertram Lesser war von Januar 2008 bis März 2023 als wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung „Handschriften und Sondersammlungen“ der HAB im Projekt „Neukatalogisierung der mittelalterlichen Helmstedter Handschriften“ beschäftigt. Seit April 2023 ist er als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Referat Abendländische Handschriften in der Abteilung „Handschriften und Historische Drucke“ der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz tätig.

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