21. Juni 2021
Am Vormittag des 16. Dezember 1901 stehen zwei fröstelnde Männer im unbeheizten Handschriftenzimmer der Herzoglichen Bibliothek zu Wolfenbüttel. Der ältere von beiden, Otto von Heinemann (1824–1904), versieht seit 32 Jahren das Amt des Oberbibliothekars. Routiniert legt er wertvolle Handschriften auf den langen Tisch, blättert einige Seiten auf und erläutert Herkunft, Inhalt und Besonderheiten.
Der junge Mann neben ihm, der jede seiner Bewegungen aufmerksam verfolgt, hatte sich zuvor in das Benutzerbuch eingetragen: „A. Warburg, Dr. phil. Florenz, Privatgelehrter“. Heinemann ahnt nicht, wie sehr sein Gast darum bemüht ist, den interessierten Gesichtsausdruck und die Contenance zu bewahren.
Abends auf seinem Zimmer im Deutschen Haus in Braunschweig wird Aby Warburg seine Eindrücke und Empfindungen in einem Brief an seine Frau Mary Hertz (1866–1934) ausführlich schildern: Heinemann sei „stolz über seine Schätze, auch willens, dem lesebegierigen Fremden […] zu imponieren“. Doch zugleich habe sich der Bibliothekar auch „maßlos geärgert über die Störung in seinem Betrieb und über die Kälte“, als er Warburg „ein Manuskript nach dem anderen für zwei Minuten“ zeigte. Mit den dazu gemurmelten Bemerkungen sei Heinemann ihm vorgekommen „wie ein alter Zauberer“, der „den jungen Adepten in seinen Kräuterkasten hineinriechen läßt, jeden Augenblick bereit, ihm den Deckel auf die Nase fallen zu lassen“.
Warburg war nicht als schaulustiger Tourist gekommen. Bereits im März hatte er Heinemann, dem er im Jahr zuvor in Luzern begegnet war, eine Postkarte geschrieben und um Auskunft über vorhandene Quellen zu den Florentiner Familien Sassetti und Tornabuoni gebeten.
Offenbar hatte er eine vielversprechende Antwort erhalten. Jetzt aber musste er darum bangen, überhaupt etwas vorgelegt zu bekommen, was ihm für seine Forschungsarbeit nützlich sein konnte: „Ich muß sehen, daß er morgen noch mit etwas rausrückt, sonst ist es hier verlorene Zeit.“
Warburg hatte allen Grund zur Besorgnis, denn Heinemann stand in dem Ruf, Benutzerwünschen gegenüber wenig aufgeschlossen zu sein. Noch in der Straßenbahn, die ihn von Braunschweig nach Wolfenbüttel brachte, wurde Warburg von „zwei Eingeborenen“ gewarnt, die Heinemann „bereits als unangenehmen Bibliothekslindwurm kannten und den Jüngling mit weisen Ratschlägen versahen wie ER zu bethören sei“. Wie Siegfried oder Jason sah sich Warburg gezwungen, das „Schlangenthier“ Heinemann zu überwinden, um zum begehrten Schatz zu gelangen.
Immerhin konnte er nach Heinemanns Vorführung der Zimelien doch noch die Prachthandschrift der Opera des Bartholomaeus Fontius, eine der sogenannten Wolfenbütteler Corvinen, einsehen. Doch aus ihr erfährt Warburg nicht mehr, als er aus der nach ihr gedruckten Fassung schon kannte – und auch „das Portrait von Fontio verrät nicht viel“.
Umso erfreulicher sollte der folgende Tag werden, als ihm ein Sammelband mit 91 seltenen Florentiner Drucken von zumeist kirchlichen Schauspielen des 16. Jahrhunderts vorgelegt wird. Warburg ist auf den Band vermutlich durch eine Publikation von Heinemanns Sekretär Gustav Milchsack (1850–1919) aufmerksam geworden, die ein Verzeichnis der enthaltenen Stücke bietet. Von diesen sollte vor allem die 1557 gedruckte Historia di Giasone et Medea mit ihren fünf Holzschnitten Warburg auch nach seiner Rückkehr nach Hamburg beschäftigen.
Um den Text und seine Bilder nochmals eingehend studieren zu können, ersucht er Heinemann später mindestens einmal – freilich vergeblich – um eine Fernleihe des Bandes. Im September 1904, nur drei Monate nach Heinemanns Tod, wendet er sich in einem Brief an dessen designierten Nachfolger Milchsack mit der Bitte um fotografische Aufnahmen der Holzschnitte. Allerdings, so Warburg, würde er es „vorziehen, den Sammelband hier noch einmal studieren zu können bzw. die Photographien hier aufnehmen zu lassen; ich wage aber nicht, diese Bitte zu wiederholen, da mir vom verst[orbenen] Oberbibliothekar vor Kurzem ein abschlägiger Bescheid zu Theil wurde, obgleich ich den Sammelband <natürlich nur> in den Räumen der hiesigen [Hamburger Stadt-]Bibliothek benutzen wollte.“ Milchsacks umgehend verfasster Antwortbrief war begleitet von seinem Nachruf auf Heinemann. Die nicht durchgängig schmeichelhafte Charakterisierung des Verstorbenen, die er darin lesen konnte, mag Warburg eine gewisse Genugtuung bereitet haben: „Wer an die Pforten der Bibliothek allzu ungestüm pochte in der Meinung, daß Bücher und Beamte nur darauf gewartet hätten, von ihm für seine, natürlich höchst bedeutenden Forschungen in Anspruch genommen zu werden, der sah sich leicht, zu seiner Ueberraschung, einem Oberbibliothekar mit kühler Amtsmiene und zugeknöpftem Rock gegenüber, und daß er hinterher seinen Aerger über nicht erfüllte Wünsche und Ansprüche in tadelnden Ausdrücken Luft machte, war menschlich und nicht unbegreiflich. (15 f.)“
Obwohl sich Milchsack demgegenüber als deutlich liberaler erweisen sollte, waren ihm doch Grenzen gesetzt. So musste er Warburg mitteilen, dass eine Fernleihe des begehrten Bandes grundsätzlich möglich sei, in diesem Fall aber die Genehmigung des Herzoglichen Staatsministerium einzuholen sei, mithin ein entsprechendes Gesuch gestellt werden müsste. Daraufhin teilte Warburg Milchsack mit, dass er sich mit den Fotos zufriedengeben werde, ein Gesuch aber vorerst nicht stellen möchte. Die Aufnahmen trafen am 22. Oktober in Hamburg ein. Doch eine bloße Bildbetrachtung ohne Berücksichtigung der Textzeugnisse entsprach nicht Warburgs wissenschaftlichem Ethos. Im Februar 1906 erbittet Warburg daher eine Abschrift von Giasone et Medea, die ihm zwei Monate später für eine Gebühr von 30 Reichsmark übersandt wird.
In den folgenden zweieinhalb Jahrzehnten wird Warburg immer wieder Bilder aus Handschriften und Drucken der Wolfenbütteler Bibliothek reproduzieren lassen. Etliche dieser fotografischen Aufnahmen sind heute noch vorhanden oder zumindest nachweisbar. Warburg setzte in seiner Forschung konsequent auf die neuen Möglichkeiten zur technischen Reproduzierbarkeit von Kunstwerken – unabhängig davon, ob er diese Bilder für eigene Publikationen benötigte. Es ist nicht gänzlich auszuschließen, dass der Aufbau des dank einer Flut von Fotoaufträgen an Museen, Bibliotheken und Archive stetig wachsenden Bildarchivs der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Hamburg auch motiviert war von den Erfahrungen, die Warburg mit schwierigen Sammlungsleitern – neben Heinemann wäre auch an Guido Biagi, den Direktor der Biblioteca Laurenziana in Florenz zu denken – gemacht hatte. Die zunehmend intensive Nutzung der Fotografie als „Bilderfahrzeug“ zweiter Ordnung erlaubte es jedenfalls, dass Warburg seine Bibliotheksreisen einschränken konnte. Nach Wolfenbüttel kam er nicht mehr.
Ich danke Björn Biester, Christian Heitzmann und Eckart Marchand für wertvolle Hinweise und Hilfestellungen. Die von Michael Diers besorgte Auswahlausgabe der Warburg-Briefe wird voraussichtlich 2021 als Band V der Studienausgabe erscheinen.
Abbildung: Aby Warburg, Fotografie, 1912 (Quelle: Wikipedia).