07. Oktober 2020

Gibt es Basisgefühle wie etwa Angst, Wut, Ekel, Traurigkeit, Überraschung und Glück, die in unserem Innern abgelegt sind und gelegentlich kontrolliert oder auch unkontrolliert hervorkommen? Haben wir festgelegte Affektprogramme, die wie in einem hydraulischen Modell zivilisiert werden müssen? Nein, sagt die Kulturwissenschaft – Emotionen sind keine biologischen Prozesse, sondern kulturell geformte Regungen, die durch materielle Praktiken erzeugt werden. Sie sind das Produkt eines komplexen Austauschprozesses zwischen Körper, Geist und sozialer Gruppe. Die Kulturwissenschaften gehen mit ihrem Praxis-, Materialitäts – und Performanzansatz einen völlig anderen Weg als die kognitive Psychologie. Aus der Kritik am protestantischen Forschungserbe, das Religion als etwas Immaterielles konzipierte und „Glauben“ zum Herzstück von Religion machte, entwickelten sich in der Geschichte, Ethnologie und Kulturwissenschaft Ansätze, die das Entstehen von religiösen Emotionen als Effekt materieller Praktiken verstehen.

In der Geschichtswissenschaft etwa werden konkrete emotionale Gemeinschaften, wie Familie, Nachbarschaft, Klöster oder Kirchengemeinden untersucht. Es wird nach den emotionalen Verbindungen zwischen Personen und dem affektiven Ausdruck gefragt, die Menschen in diesen Gemeinschaften erwarten oder ablehnen. Ein weiterer Ansatz fragt nach emotionalen Erfahrungen im Akt des Sprechens und Schreibens und nimmt eine Verbindung von emotionalem Ausdruck und emotionaler Erfahrung an, wie beim Beten oder Tagebuch schreiben. Insofern macht das Benennen von Emotionen diese dann erfahrbar und erzeugt einen emotionalen körperlichen wie seelischen Zustand, schafft Realitäten.

In der Ethnologie steht die Entstehung religiöser Emotionen durch den Umgang mit allen nur erdenklichen Arten von Medien im Zentrum. Dazu gehören Druckmedien, Handschriften, Substanzen, Gerüche, Objekte, Bilder, Worte, Klänge, Texte und der Körper selbst. Das innere Fühlen entsteht vom Außen her. Medien und die mit ihnen verbunden materiellen Praktiken werden als Vermittler von religiösen Gefühlen angesehen. Ritual, Kommunikation, Zeremonie, Instruktion, Meditation, Propaganda, Pilgerfahrt, Magie, Liturgie kreieren damit spezifische religiöse Glaubenswelten. Die Kulturanthropologin Monique Scheer zeigt einen hilfreichen gleichermaßen methodischen wie forschungspraktischen Weg auf. Für die Untersuchung von Emotionen schlägt sie vier sich überlappende Emotionspraktiken vor: Mobilisieren, Benennen, Kommunizieren und Regulieren. Unter Mobilisieren von Gefühlen versteht Scheer Gewohnheiten und Rituale, die einen bestimmten emotionalen Zustand erzielen. Das Benennen von Gefühlen macht diese erst explizit. Im zwischenmenschlichen Austausch finden Gefühle über Kommunikation und Medien vermittelt statt. Dieses Handeln ist stets durch Sozialisation und Affektregeln reguliert. Aus dieser Perspektive sind Emotionen weniger etwas, was wir haben, als etwas, was wir tun (doing emotions).

Es gibt eine Vielzahl kulturwissenschaftlicher Ansätze zur Erforschung historischer Emotionen. Wir sind also nicht die ersten, die über religiöse Emotionen forschen, jedoch sprechen unsere Bestände eine leise, aber unüberhörbare Einladung zur Materialisierung dieser Forschungen aus. Im Rahmen des Forschungsprogramms ist die Entwicklung wissenschaftlicher Aktivitäten wie etwa Workshops und Forschungsvorhaben geplant. Unser Stipendienprogramm ermöglicht Forschungsaufenthalte zum Themenbereich „Religion & Emotion“. Ein großes Interesse besteht daran, in vergleichender Perspektive zu arbeiten und alle im vormodernen Europa praktizierten Religionen, sei es das Judentum, der Islam oder christliche Denominationen auch jenseits des Luthertums, zu integrieren. Emotionsforschung verändert den Blick auf Religion, die Gläubigen kommen stärker mit ins Bild, nicht allein Theologie und Politik.

 

PURL: http://diglib.hab.de/?link=155