26. August 2020
In der frühen Neuzeit war dieses Konzept der Dokumentation der genealogischen Abstammung hingegen auch auf einer intellektuellen und emotionalen Ebene präsent, indem man Schriftzeugnisse und manchmal auch Bildzeugnisse von Menschen, denen man sich verbunden fühlte oder die man auch nur einmal getroffen hatte, in einem Buch sammelte. Ein solches Buch wird ebenfalls als Stammbuch bezeichnet – oder als Album Amicorum, was recht frei aus dem Lateinischen übersetzt „Sammelbuch der Freunde“ heißt und was in einem modernen Verständnis vielleicht besser den Inhalt dieser Bücher charakterisiert. Der Begriff kommt von albus (weiß) her und zeigt an, dass jedes dieser Bücher zu Anfangs aus leeren, weißen Seiten bestand, die es zu füllen galt.
Im Umkreis der Wittenberger Universität nutzten die Studenten ab den 1530er Jahren solche Bücher, um sich durch den Austausch von Unterschriften, Widmungen und Sinnsprüchen untereinander ihrer Beziehung zu versichern. Die Einträge von berühmten Reformatoren, namhaften Gelehrten und anderen Elitenangehörigen dienten als Ausweis des gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Ranges; Orte und Daten dokumentierten die Studienaufenthalte und damit die Weltläufigkeit des Stammbuchführers. Der Gebrauch dieser Bücher breitete sich in den folgenden Jahrzehnten auch in anderen Gesellschaftsschichten aus und wurde insbesondere in akademischen Kreisen bis ins frühe 19. Jahrhundert praktiziert. Die Poesiealben des 20. Jahrhunderts sowie speziell vorbereitete Freundebücher für Kindergarten und Schule setzen den Brauch bis hin zu den digitalen sozialen Medien fort.
Die Herzog August Bibliothek konnte in diesem Jahr mit dem "Großen Stammbuch" des Augsburger Kunsthändlers und Politikagenten Philipp Hainhofer (1578–1647) ein herausragendes Dokument zur Stammbuchkultur der frühen Neuzeit erwerben. Das in violettem Samt eingebundene, etwa 21 x 18 cm messende Buch enthält 227 gezählte Seiten auf Pergament und Papier mit Einträgen aus den Jahren 1596 bis 1633.
Es ist jedoch weit mehr als nur ein Dokument akademischer Freundschaftskultur, denn neben Einträgen aus der Studienzeit des Halters gibt es zahlreiche Inskriptionen von einigen der wichtigsten Vertreterinnen und Vertreter des europäischen Hochadels, darunter die Kaiser Rudolf II. und Matthias, der dänische König Christian IV. oder der „Winterkönig“ Kurfürst Friedrich V. von der Pfalz und seine Gemahlin Elisabeth Stuart.
Nicht immer hatte Hainhofer eine persönliche Beziehung zu den hochrangigen Einträgern, häufig hatten ihm andere fürstliche Personen den Kontakt vermittelt. Je mehr hochrangige Persönlichkeiten sich aber eintrugen, desto mehr steigerte ein solches Stammbuch auch den Status seines Besitzers: Die Anzahl und der Rang der sozial und politisch einflussreichen „Freunde“, die sich darin verewigt hatten, eröffneten dem auch in diplomatischen Missionen tätigen Hainhofer den Zutritt zu weiteren gesellschaftlichen Kreisen, die ihm sonst wohl verschlossen geblieben wären.
Wer sein Stammbuch von Fürstinnen und Fürsten ausstatten ließ, konnte auf besonders qualitätsvolle Bildbeiträge hoffen. Hainhofer überließ dies keineswegs dem Zufall, sondern managte selbst im Auftrag seiner Einträger die malerische Ausstattung, die er häufig von bekannten Augsburger Künstlern anfertigen ließ.
Der Hochadel Europas sollte in dem Buch folglich durch den „Adel der Malerei“ repräsentiert werden. Nach dem beschriebenen Prinzip der Wechselseitigkeit steigt der Stellenwert der Malerei mit dem Rang der Persönlichkeiten, deren Unterschriften sie begleitet. Hainhofer beförderte diesen Umstand, indem er neben den gattungstypischen Wappen oder Personifikationen eigene „Schmuckblätter“ anfertigen ließ, die in Format, Ausführung und Thematik deutlich über die konventionellen Bildmotive hinausgingen. Das große Stammbuch war damit anders als viele Vertreter seiner Gattung auch ein Sammlungsalbum für Kunst.
Hainhofer besaß noch zwei weitere, ähnlich illustrierte Stammbücher, die sich heute in Wolfenbüttel und Augsburg befinden. Den Anstoß für die Vermehrung der Alben gab wohl 1611 Herzog Wilhelm V. von Bayern, der anlässlich seines eigenen Eintrags in das Buch erklärte, dass Hainhofer leichter fürstliche „Freunde“ gewinnen könne, wenn er diese separat in einem eigenen Buch versammelte. Seitdem führte Hainhofer nach dem gesellschaftlichen Stand der Einträger unterschiedene Alben, deren normierte Blätter er dank einer speziellen Bindung austauschen und das Album damit einem bestimmten Anlass, etwa einer diplomatischen Mission am Kaiserhof, anpassen konnte. Daher fehlen in der aktuellen Zusammenstellung des "Großen Stammbuchs" zahlreiche Blätter vor allem katholischer Einträger, darunter auch das des erwähnten bayerischen Herzogs. Noch enthalten ist dagegen das Blatt des Namensgebers der Wolfenbütteler Bibliothek, August d.J. zu Braunschweig-Lüneburg. Der Wolfenbütteler Herzog stand in langjährigem Briefkontakt mit Hainhofer und suchte nach dessen Tod 1647 vor allem dessen Stammbücher zu erwerben – das Große Stammbuch konnte er allerdings Hainhofers Sohn und Erben nicht abhandeln. Danach verlieren sich die Spuren des Buches; der im 19. Jahrhundert einsetzenden Hainhofer-Forschung galt es daher als verschollen.
Der Verlust des historisch wie kunstgeschichtlich gleichermaßen bemerkenswerten Stücks nährte seinen Ruhm und beförderte zugleich die Versuche, Inhalt und Struktur anhand der Angaben Hainhofers zu rekonstruieren. Von der Forschung unbemerkt erwarb bereits 1946 der botanisch interessierte Bibliophile Cornelius Hauck in Cincinnati das angeblich verschollene Stammbuch. Es trat erst wieder 2006 auf einer Auktion in New York ins Licht auch der wissenschaftlichen Öffentlichkeit, als es für eine englische Privatsammlung erworben wurde. Schließlich gelang 2020 der Ankauf für die Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel.
Nachtrag, 25.10.21
Das Album Amicorum wurde nun in hoher Qualität digitalisiert. Hier können Sie darin blättern.