7. November 2023

In digitalen Editionen verstecken sich umfangreiche und komplexe Datensätze. Ihre Visualisierung kann die Interpretationsmöglichkeiten erweitern, indem sie das Verständnis von Werkkontexten fördert und neue Instrumente zur Erkundung historischer Texte bietet. Die Visualisierungsformen hängen dabei nicht nur von Erkenntnisinteresse und Darstellungswünschen der Editor*innen ab, sondern ebenfalls davon, was mit dem vorhandenen Datenkorpus einer Edition überhaupt möglich ist. Obwohl sich auf technischer Ebene der Annotation immer einheitlichere Editionsstandards durchsetzen, unterscheiden sich verschiedene Editionsvorhaben im Hinblick auf ihre Methoden der Textkonstitution, Textkommentierung und Apparatgestaltung. Welche überlieferten Textzeugnisse werden herangezogen, um einen Editionstext zu konstituieren? Wie ausführlich wird ein Text kommentiert? Welche Texteinheiten werden in einen Registerapparat aufgenommen?

All diese Editionsentscheidungen haben Einfluss darauf, welche Daten visualisiert werden können. Visualisierungen können dabei auf verschiedene Typen von Daten und Metadaten zurückgreifen: Solche, die die Eigenschaften des Textobjektes beschreiben, wie zum Beispiel Sprache, Autor*in oder Erscheinungsjahr (bibliografische Metadaten). Solche, die strukturelle Elemente eines Textes wie Seitenzahlen, Kapitel, oder Titelblatt abbilden (Strukturdaten oder strukturelle Metadaten). Sowie normierte Datensätze, die helfen, Entitäten wie Personen, Orte und Organisationen eindeutig zu bestimmen (Normdaten).

Das aktuelle Datenkorpus der Hybridedition der deutschsprachigen Werke des Martin Opitz basiert auf einer zweiteiligen Grundlage. Da sind zum einen die retrodigitalisierten Editionstexte der sogenannten ‚Altbände‘, die zwischen 1968 und 1990 von George Schulz-Behrend ediert wurden und im Hiersemann Verlag erschienen. Sie folgen dem chronologischen Editionsprinzip ‚erster Hand‘, d.h. sie basieren auf den Erstausgaben. Zum anderen gibt es die ‚Neubände‘, welche am Lehrstuhl von Professor Jörg Robert an der Universität Tübingen entstehen und ebenfalls im Hiersemann Verlag sukzessive veröffentlicht werden. Sie knüpfen an die Altbände an, berücksichtigen dabei aber aktuelle Editionsstandards, und legen Wert auf eine breitere inhaltliche Erschließung und gründlichere Kommentierung der Werke. Beide fließen im digitalen Portal der Hybridedition, das aktuell an der HAB entsteht und in den kommenden Monaten online gehen wird, zusammen. Dafür werden zukünftig die neuen Bände nach dem Ablauf einer Moving Wall von zwei Jahren jeweils schrittweise im Onlineportal publiziert.

Opitz' Werke existieren heute hauptsächlich als Drucke und seltener als Manuskripte. Sowohl die Überlieferungslage seiner Werke als auch die Wahl des Editionsprinzips weisen darauf hin, dass aufwendige interaktive Visualisierungen der Werkgenese aus Meta- und Strukturdaten, hier weniger erkenntnisreich wären. Wiederum sehr ausführlich annotiert sind in der Opitz Hybridedition Normdaten von Personen und Orten. Es liegt also nahe, sich insbesondere diesen zuzuwenden.

Ansicht einer Landkarte, die primär Europa aber auch Teile Asiens und Nordafrikas zeigt. Gelbe Kreise markieren bestimmte Orte.
Übersicht alle Orte, die in Editionstexten Erwähnung finden, visualisiert mit dem Programm Palladio. Größe der Kreise: Häufigkeit der Erwähnung. Screenshot: Susann Schwaß, 2023.

Methoden der Spatial Humanities in Digitalen Editionen

Trotz seiner heutigen Bedeutung für die deutsche Literaturgeschichte und Dichtungstheorie, war Opitz längst kein Berufsdichter. Neben seinem dichterischen Wirken war er vor allem als Hofrat, Sekretär und Hofhistoriograf an verschiedenen Höfen tätig und unternahm in deren Auftrag zahlreiche diplomatische Reisen in Europa. Seine Wirkungszentren zu visualisieren, ist aber nicht nur vor einem biografischen Hintergrund aufschlussreich. Kasuallyrik für Hochzeiten, Trauerfeiern oder Lobreden auf Herrschende machen einen großen Anteil der edierten Texte aus. Personennetzwerke und Kartenvisualisierungen können helfen, die Entstehungskontexte dieser Texte vor dem Hintergrund der Spannungen des 30jährigen Krieges besser zu verstehen. Besonders in seiner letzten Dekade, den sogenannten polnischen Jahren, manövrierte Opitz in diesen unterschiedlichen kulturellen Räumen mit viel Feingefühl und diente zeitweilig vier Fürsten in deren Mitwissen und Einverständnis gleichzeitig.

In dieser Schaffensphase verfasste er zudem landeskundliche Werke, wie die Sarmatica und die verschollene Dacia antiqua. Auch wenn letztere nicht Teil der neuen Editionsbände werden, zeugen sie doch von einem Interesse Opitz' und seiner Auftraggeber, das geografische Wissen ihrer Zeit in die Texte einfließen zu lassen. Landeskundliche Schriften sind in der Spätrenaissance, ähnlich wie Karten, Instrumente kultureller Raumpraktiken – also materielle und symbolische Werkzeuge, die eine Kultur nutzt, um ihre Normen, Werte und Bedeutungen in einen physischen Raum einzuschreiben und diesen zu organisieren. Sie sprechen von dem Wunsch, Geltungsbereiche in einer immer größer werdenden Welt zu verorten. Aus heutigem Standpunkt sollten daher Visualisierungen solcher historischen Gebiete wie Schlesien und Siebenbürgen bedacht umgesetzt werden.

Mit der Frage, wie raumbezogene Daten in die geisteswissenschaftliche Forschung einbezogen werden können, beschäftigten sich die sogenannten Spatial Humanities. In deren Kontext wurden eine Vielzahl von digitalen Werkzeugen entwickelt, um historische mit heutigen Geodaten ins Verhältnis zu bringen. Auf diese Werkzeuge greifen die Kartenansichten in der Opitz Hybridedition zurück. So wurden beispielsweise mit Anwendungen wie geojson.io, QGIS, DARIAH-DE Geo-Browser und leaflet, historische Orte und Gebiete durch Geotagging auf modernen Kartenansichten integriert, historische Kartendigitalisate auf aktuelle Georeferenzsysteme transformiert und eigene interaktive Karten programmiert. Daraus entstehen Karten, in denen User*innen eigenständig Betrachtungsebenen auswählen sowie nach Editionsbänden, Personen oder Zeithorizonten filtern können, um für ihre Forschungsfragen relevante Visualisierungsansichten zu finden.

Eine historische Kartendarstellung Süditaliens, auf der Textverweise mit Schreibfedern markiert sind.
leaflet-Visualisierung der Handlungsorte in der Argenis Buch 1-5, basierend auf der Portolankarte Nova Et Exquisita Descriptio Navigationum Ad Praecipuas Mundi Partes von Nicolas de Nicolay, 1544, K 3,90. Screenshot: Schwaß, 2023.

Doch ein Blick in die Edition zeigt, dass sich nicht alle Orte ohne weiteres auf einer heutigen Karte eintragen lassen. Neben den Plätzen, die eindeutig mit realweltlichen Orten korrelieren, finden sich auch vergessene, erfundene und mythische Handlungsorte in Opitz Dichtung. Visualisierungen solcher textlichen Raumkonfigurationen können helfen, frühneuzeitliches Erzählen unter neuen Aspekten zu erkunden. Welche Rolle nimmt in dieser Zeit das Erzählen von Raum aus europäischer Perspektive ein? Inwieweit können historische oder fiktionale Handlungsorte für andere Orte und Geschehnisse stehen?

Unter herkömmlichen Recherchewegen führt so manche Spur zunächst ins Leere. Visualisierungen können hier dabei helfen, Unstimmigkeiten und Lücken zu erkennen und zu korrigieren. Sie sind damit nützliche Instrumente für die Verbesserung der Datenqualität sowie für die Erweiterung der Datenbasis einer Edition und sichern die Zugänglichkeit komplexer Informationen für ein breites, interdisziplinäres wissenschaftliches Publikum.


Titelbild: Collage aus Negativ-Aufnahme und Code der leaflet-Visualisierung der Handlungsorte in der Argenis Buch 1-5, basierend auf der Portolankarte Nova Et Exquisita Descriptio Navigationum Ad Praecipuas Mundi Partes von Nicolas de Nicolay, 1544, K 3,90. Screenshot: Schwaß, 2023.

 

PURL: diglib.hab.de?link=177