19. Juli 2021
Johannes Caselius lehrte ab 1589 als Professor für Philosophie, Rhetorik und Ethik an der Universität Helmstedt. Seine umfangreiche Korrespondenz und eine Sammlung weiterer Texte wie Kommentare oder Übersetzungen wurden für ein Forschungsprojekt des Gaststipendiaten Tomás Valle ausgewählt. (Lutheran Unorthodoxy: Controversial Academic Networks, c. 1560–1621).
Für die insgesamt 50 Caselius-Handschriften bedeutet selbst äußerst behutsame Handhabung stets auch eine mechanische Beanspruchung. So können beispielsweise Risse im Papier beim Blättern weiter einreißen oder spröde bzw. bereits beschädigte Elemente des Einbandes brechen. Deshalb ist es Aufgabe der Stabsstelle Erhaltung und Restaurierung, solche Bände auf ihren Erhaltungszustand zu überprüfen, das Schadensrisiko abzuwägen und sie bei Bedarf mit individuellen präventiven und restauratorischen Maßnahmen für die Benutzung vorzubereiten.
22 Bände bedurften besonderer Aufmerksamkeit, da diese zwar in schlichter und zweckmäßiger Weise eingebunden sind, jedoch auch besonders beschädigt waren. Sie sollen hier vorgestellt werden.
Alle Einbände dieser Gruppe wurden als Kopert mit Langstichheftung angefertigt, einer vom Mittelalter bis zur frühen Neuzeit gebräuchlichen, flexiblen Einbandform. Sie bestehen aus Lagen, d.h. mehreren, ineinandergelegten Doppelblättern, die in einen Umschlag geheftet sind. Der Heftfaden wird in langen Stichen direkt durch Lagen und Umschlagrücken hindurch geführt und sorgt damit ohne den Einsatz von Klebstoff sowohl für die Verbindung der Lagen untereinander als auch mit dem Einband. Das Material für die Umschläge stammte von aufgelösten, älteren Handschriften, sogenannter Pergamentmakulatur.
Nicht nur der „Zahn der Zeit“ – also natürliche Alterung, ungünstige Lagerungsbedingungen und Benutzung – sondern auch die vergleichsweise schwache Einbandstruktur in Verbindung mit den verwendeten Materialien und zuweilen äußerst voluminösen Büchern führten zu einem eindrücklichen Schadensbild: Insbesondere dicke Bände sind stark verformt, mürbe gewordene Heftfäden waren gerissen, sodass sich Lagen lockerten. Das manchmal sehr dünne Pergament der Umschläge ist vielfach geknickt, deformiert, spröde und brüchig, sodass durch die notwendige Bewegung am Rücken beim Öffnen und Blättern kleinere und größere Fehlstellen sowie Brüche entstanden. Einrisse und Knicke an den Blattkanten des unbeschnittenen Textblocks sind Folgen häufiger Benutzung, aber auch von ungenügendem Schutz durch den Einband bei der Handhabung der massigen Stücke. Jede weitere Benutzung würde unweigerlich weitere Schäden hinzufügen. Noch bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts wurden derart beschädigte Einbände rigoros durch einen Neueinband ersetzt, sodass nur wenige Langstichbände erhalten sind. Das Ensemble der Caselius-Handschriften stellt hier eine seltene Ausnahme dar, deren Erhaltung daher umso bedeutsamer ist.
Restaurieren heißt nicht „wieder neu machen“! Vielmehr galt es, die Bände für die Beanspruchung während Benutzung und Erforschung wiederherzustellen, aber zugleich so wenig wie möglich in die besondere Einbandstruktur einzugreifen.
Als konservatorische, d.h. nichtinvasive Maßnahme sollten alle Bände einen Umschlag aus dünner, transparenter Polyesterfolie (Mylar) erhalten. Diese für die anstehende Restaurierung wegweisende Entscheidung bietet mehrere Vorteile: Die Folie schützt die empfindlichen, offenliegenden Heftfäden und die Pergamentmakulatur des Einbands. In den Fällen, wo der originale Umschlag zu kurz ist, werden auch die ungeschützten ersten und letzten Blätter durch den entsprechend verlängerten Folienumschlag bedeckt. Je nach Bewegungsspielraum beim Öffnen und Schließen des Buches erlaubt der stützende Mylar-Umschlag, manche Fehlstellen am Rücken unbehandelt zu lassen und so den Eingriff am Original zu minimieren. Aufgrund der Transparenz des Schutzumschlags bleiben Einbandmaterial und -technik, aber auch Schäden sichtbar, sodass sich Benutzer*innen auf eine besonders sorgsame Handhabung einstellen können.
Die direkten restauratorischen Eingriffe an der Pergamentmakulatur stellten eine große Herausforderung dar: die gealterten Materialien waren äußerst brüchig und die Schäden selbst durch den deformierten Buchrücken nur schwer zugänglich. Jeder einzelne Band erforderte ein individuelles Vorgehen und stetiges Nachjustieren der Maßnahmen, denn einzelne Arbeitsschritte wie etwa das behutsame Rückformen des deformierten Buchblocks wirken sich direkt auf den ebenso verformten, versteiften Pergamentumschlag aus.
Pergament ist ein stark hygroskopisches Material, d.h. es reagiert unmittelbar auf Luftfeuchtigkeitsschwankungen und ist so ständigen Dehnungs- und Schrumpfungsprozessen unterworfen. Dies führt im Laufe der Zeit zum Verspröden. Während der Restaurierung wurde deshalb ein Werkstattraum gesondert klimatisiert und auf eine konstante relative Luftfeuchte von 50% eingestellt. Dies entspricht den Klimabedingungen von Handschriften-Magazin und Lesesaal.
Bei der Rückformung der Umschläge wurde die hygroskopische Eigenschaft des Pergaments genutzt. Um es etwas weicher und formbarer zu machen, wurde eine lokal begrenzte Fläche des Pergaments für kurze Zeit einer geringen Menge Wasserdampf ausgesetzt. Als Hilfsmittel diente ein Sandwich aus der Wasserdampf-durchlässigen Membran Gore-Tex und einem dosiert gefeuchteten Stück Löschkarton. In diesem flexibilisierten Zustand konnte das Pergament in Form gelegt, beschwert und dadurch Knicke und Stauchungen, langsam trocknend, optimal plan gelegt werden. Oft konnte nur in einem Bereich von wenigen Millimetern bis Zentimetern gearbeitet werden. Das Verfahren erforderte größte Subtilität, denn die geringste Überdosierung der Feuchte führt unweigerlich zur Zerstörung des gealterten Pergaments, von dem dann nur noch eine gelatinierte, klebrige Masse übrig bleibt.
Auch das Schließen von Fehlstellen am Umschlag verlangt ganz individuelles Vorgehen. Japanpapier in unterschiedlichen Stärken ist ein ideales Ergänzungsmaterial. Durch seine langen, anschmiegsamen, aber zähen Fasern ist es flexibel genug, um die Bewegung des Buchrückens zu unterstützen. Oftmals musste das Japanpapier regelrecht modelliert werden, um bei den Verwerfungen des Pergaments keine zusätzliche Spannung auszuüben.
Die Ergänzung des Pergaments unter den Heftfäden war besonders knifflig und langwierig. Auch hier konnte nur in sehr kleinen Schritten gearbeitet werden, um sowohl ein Reißen des fragilen Fadens beim Unterziehen des Japanpapiers auszuschließen als auch die kleinen Fragmente des Pergamentumschlags zu integrieren.
Bereits gerissene Heftfäden wurden durch punktuelles Verkleben mit Weizenstärkekleister sorgfältig gesichert, um die originale Heftung weitestgehend zu erhalten.
Nach den minimalinvasiven restauratorischen Eingriffen bleiben die Langstichbände aus der Gruppe der Caselius-Handschriften aufgrund ihrer materialen Individualität weiterhin empfindlich und bedürfen einer besonders schonenden Benutzung. In den Lesesälen der HAB werden dafür Buchstützen mit einem reduzierten Öffnungswinkel von 60° zur Verfügung gestellt, die einen Kompromiss zwischen buchschonender Öffnung und Lesekomfort für die Benutzer*innen darstellen.
Tandem bona causa triumphat – Am Ende gewinnt die gute Sache. Dieses Motto aus einer der bearbeiteten Caselius-Handschriften könnte auch für die durch die Forschung veranlassten Konservierungs- und Restaurierungsmaßnahmen gelten. Sie haben jetzt fürs Erste ihren Abschluss gefunden. Die Erhaltung der Caselius-Handschriften liegt nun auch und insbesondere in den Händen zukünftiger Benutzer*innen.