06. Oktober 2021

„[S]eltsam verrückt und erfüllt von tausenden Vorstellungen“, so scheinen bisweilen die Lesenotizen, die Ludwig Rudolph, der jüngste Sohn von Herzog Anton Ulrich, 1712 während eines Aufenthalts bei seinem Schwager Albrecht Ernst II. von Oettingen-Oettingen (1669-1731) machte. Bunt gemischt sind die Begriffe und Redewendungen, Autor*innennamen und Buchtitel, darunter auch das Titelzitat aus den beliebten Feenmärchen Le nouveau Gentilhomme bourgeois ou les fées à la mode (Amsterdam 1711) von Marie-Catherine d’Aulnoy, die Ludwig Rudolph zwischen dem 28. Januar und 1. Februar 1712 gelesen hatte. Im französischen Original „Sa tête étoit étrangement féleé et remplie de mille sortes d'imaginations“. Die Aufzeichnungen in seinem Tagebuch erlauben mit detaillierten Angaben einen seltenen Einblick in das fürstliche Leseverhalten.

Ludwig Rudolph hatte eigentlich eine Karriere im Militär angestrebt und in jungen Jahren „mehr lust zum Kriege alß zum büchern“ (Cod Guelf 217a Blank, S. 4) gehabt, wie er in seiner Autobiographie festhielt. Nachdem seine körperliche Verfassung und ausbleibende Erfolge auf dem Schlachtfeld eine steile militärische Karriere jedoch verhinderten, und er in das politische Geschehen seiner Zeit kaum eingebunden war, entwickelte er doch noch ein recht lebhaftes Interesse an Büchern. Aus der Bibliotheca Augusta in Wolfenbüttel entlieh er fleißig Werke geschichtlichen und religiösen Inhalts und fing an, sich eine eigene Büchersammlung aufzubauen. Auch seinen Aufenthalt im Fürstentum Oettingen-Oettingen 1712 verbrachte Ludwig Rudolph zu einem großen Teil mit ausgiebiger Lektüre. Grund für die Reise nach Süddeutschland, auf der ihn seine Ehefrau Christine Luise und seine jüngste Tochter Antoinette Amalie (1696-1762) begleiteten, dürfte allerdings nicht seine Leselust gewesen sein oder nur ein Besuch bei der Familie seiner Frau. Kaiser Karl VI. (1685-1740), der 1708 Ludwig Rudolphs älteste Tochter Elisabeth Christine (1691-1750) geheiratet hatte, hielt sich zu dieser Zeit zwecks Kaiserkrönung im Süden des Reichs auf und die beiden kamen Anfang 1712 in Nürnberg zusammen. Sicherlich bot der Besuch bei der Oettinger Verwandtschaft aber auch ein wenig Raum, um fern des heimischen Hofs ein wenig Zerstreuung und Abwechslung zu finden, und erst nach über einem halben Jahr machte sich Ludwig auf die Rückreise, die er ebenfalls detailliert in seinem Tagebuch beschrieb.

Bis zu seiner Abreise zählte Ludwig Rudolph knapp 50 gelesene Bücher und Traktate auf. Einige von ihnen, vor allem die theologische Erbauungsliteratur, wie die von seinem Beichtvater Eberhard Finen für ihn zusammengestellte Heylsame Seelen-Artzeney (Braunschweig 1711), konsultierte er gleich mehrfach. Um seinen Bücherhunger auf der Reise zu stillen, hatte Ludwig Rudolph etliche Bücher im Gepäck mitgebracht. Ein großer Teil der gelesenen Werke, so etwa eine Abhandlung über die Geschichte des Fürstentums Oettingen-Oettingen, stammte aber sehr wahrscheinlich aus der gut ausgestatteten Bibliothek seines Schwagers. Ludwig Rudolph legte in Schrattenhofen regelrechte Lesetage ein. So las er etwa im April und Anfang Mai alle sechs Bände von Giovanni Paolo Maranas L’espion dans les cours des princes chrétiens (Köln 1711), einer Sammlung fiktiver Briefe, die aus der Sicht eines türkischen Gesandten das Leben zur Zeit Ludwig XIV. kommentierten. Es war wie die meisten von ihm rezipierten Bücher und Traktate auf Französisch (gefolgt von Deutsch und Latein) verfasst, einer Sprache, die Ludwig Rudolph bereits in jungen Jahren erlernt und deren Kenntnisse er auf einer Kavalierstour nach Frankreich vervollkommnet hatte. In seinem Tagebuch notierte er sich immer wieder französische Ausdrücke und Redewendungen, die ihm wohl bisher nicht geläufig waren, wie auch die Namen etlicher Autor*innen und Bücher, die er gerne besitzen und lesen wollte.

Ein Kreisdiagramm zeigt das Überwiegen von französicher, deutscher und lateinischer Literatur.
Erstellt mit LibReTo.

Während er die Lektürenotizen in seinem Tagebuch auf einige stichpunktartige Aufzeichnungen beschränkte, zeigen die von ihm überlieferten Exzerptbücher eine intensive Auseinandersetzung mit seiner Lektüre. Während seines Aufenthalts in Schrattenhofen exzerpierte er aus Casimir Freschots Abhandlung État ancien et moderne des duchés de Florence, Modene, Mantoue & Parme (Utrecht 1711) mehrere hundert Seiten (Cod Guelf. 176 Blank. u. Cod Guelf. 162b Blank.). Insgesamt gesehen variierte das fürstliche Leseverhalten in Oettingen-Oettingen stark und Ludwig Rudolph las gleichermaßen Unterhaltungs- wie auch religiöse Erbauungsliteratur sowie Abhandlungen, die das politische Geschehen der Zeit thematisieren. Dennoch sind die persönlichen Neigungen Ludwig Rudolphs deutlich erkennbar, insofern historisch-politische Bücher dominierten. Dazu zählen auch juristische Texte, aus denen sich Ludwig Rudolph beispielsweise die im Sinne des Absolutismus zeitgenössisch oft zitierte, auf das römische Recht zurückgehende Maxime notierte: „Princeps sit solutus Lege potestativa […] non tamen est solutus a dictamine rectæ rationis, nec a jure naturali.“ („Der Fürst sei vom positiven Gesetz losgelöst, nicht jedoch vom Diktat der richtigen Vernunft und nicht vom Naturrecht.“, Cod. Guelf. 286 Blank. S. 43). Dies wie auch die vielen anderen Exzerpte, die Ludwig Rudolph zu Papier brachte, zeigen, dass die Lektüre nicht nur seinem Vergnügen oder seiner Erbauung diente, sondern auch der „Connoissance esseuree“ (S. 4), der Vertiefung von Kenntnissen.

Zu Tage tritt aber auch Ludwig Rudolphs „Bibliomanie“ (S. 14), ein aus dem Französischen übernommener Begriff, den er sich ohne direkte Quellenangabe wohl am 21. Februar 1712 notierte. Diese Bibliomanie führte dazu, dass Ludwig Rudolph von seiner Reise zurückgekehrt ab 1714 seine seit 1709 in Blankenburg aufgestellte Bibliothek systematisch erweiterte, bis sie bei seinem Tod 1735 gut 15.000 Bände umfasste.

Das Ex Libris Ludwig Rudolphs (Cod. Guelf. 28 Blank).
Das Ex Libris Ludwig Rudolphs (Cod. Guelf. 28 Blank).

Er hinterließ damit, seinem Großvater August d. J. nicht unähnlich, ein Zeugnis „barocker Bücherlust“ (Paul Raabe), das Mitte des 18. Jahrhunderts zu großen Teilen in die herzogliche Bibliothek in Wolfenbüttel überführt wurde und sich heute, zum Teil noch mit seinem Ex Libris versehen, in der Mittleren Aufstellung befindet.

 

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Abbildung: Johann Konrad Eichler, Porträt des Herzogs Ludwig Rudolph zu Braunschweig-Lüneburg, 1731, Sign.: B 92.


 

Jan-Hendrik Hütten

Jan-Hendrik Hütten war von 2020 bis 2021 im Projekt „Selbstzeugnisse II“ an der HAB beschäftigt. Seit dem 1.1.2022 ist er Mitarbeiter der Dombibliothek Hildesheim.

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