27. Januar 2023
Eine Gouacheminiatur auf Pergament (Titelbild) im Großen Stammbuch Philipp Hainhofers (1578–1647) zeigt eine helle Hügellandschaft, im Hintergrund einen Burgberg, über allem einen strahlend blauen Himmel. Zwei Täubchen mit Ölzweigen im Schnabel fliegen auf ein stolzes Ross zu. Auf ihm sitzen vier männliche Figuren, gekleidet in die farbenprächtige und goldverzierte Kleidung von Edelleuten des frühen 17. Jahrhunderts. Über Hose, Wams und Schärpe liegen Mantel und Spitzkragen. Federgeschmückte Hüte sitzen auf langen Locken, die Beine stecken in hellen Stulpenstiefeln mit Sporen. Vorne links sieht man den Wappenschild des Kurfürstentums Sachsen. Eine weibliche Figur mit einem Kranz aus Früchten und Ähren im Haar präsentiert eine Muschelschale mit einem geöffneten Granatapfel. Die Schildhalterin personifiziert Fruchtbarkeit und Überfluss.
Durch das Wappen sind die vier edlen Reiter als Brüder aus dem Hause Wettin zu identifizieren. Es sind die Söhne von Kurfürst Johann Georg I. (1585–1656). Mit den Zügeln in der Hand sitzt zuvorderst der älteste, Kurprinz Johann Georg (1613–1680), dahinter August (1614–1680), Christian (1615–1691) und als jüngster der damals erst zehnjährige Moritz (1619–1681).
Die Miniatur ist Teil einer Doppelseite. Links vom Bild (Abb. 2) stehen die Gottesfurcht ausdrückenden lateinischen Devisen und die Unterschriften der Dargestellten, dazu Ort und Datum: Dresden, 30. September 1629. Umrahmt wird das Ganze von stilisierten Ranken und Blüten.
Die Doppelseite zeigt alle typischen Elemente eines frühneuzeitlichen Stammbuchblatts und ist in ihrer Pracht zugleich ein Beispiel fürstlicher Repräsentation. Stammbücher waren nicht nur ein beliebtes Medium der frühneuzeitlichen Erinnerungskultur, sondern auch ein Instrument, um Förderer oder Verbündete zu gewinnen.
Die schriftliche und bildliche Verewigung der jungen Sachsenherzöge verbinden sich zu einem Idealbild der Herrschaft in Eintracht und Gottesfurcht und verweisen somit auf eine glückliche Zukunft des Landes: So wie die Devisen von einer gemeinsamen Bordüre umkränzt werden, reiten die vier Brüder gemeinsam auf einem Pferd. Ihr Erbe, das blühende Kurfürstentum, steht fest wie die Burg. Nicht nur die Landschaft ist in strahlendes Licht gerückt. Das Taubenpaar spielt auf das Ende der Sintflut an und symbolisiert Frieden. Und doch entstand das Blatt mitten im Dreißigjährigen Krieg. Von dessen Verheerungen war Sachsen bis dahin noch einigermaßen verschont geblieben. Für Philipp Hainhofer hingegen waren die Auswirkungen wirtschaftlich wie gesellschaftlich schon schmerzhaft spürbar. Der Augsburger Kaufmann war in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts ein bedeutender Kunst- und Informationsvermittler für verschiedene deutsche Fürsten. 1629 reiste er als Mitglied einer protestantischen Delegation nach Dresden, um Kurfürst Johann Georg I. um Beistand zu bitten, die Folgen des Restitutionsedikts in Augsburg zu mildern. Mit dem Edikt hatte Kaiser Ferdinand II. (1578–1637) die katholische Seite dauerhaft begünstigen wollen. Abendgesellschaften, Jagden und Kirchenbesuche brachten Hainhofer in Sachsen mit verschiedenen Personen zusammen. Dies nutzte er mit Charme, Geschick und Nachdruck, um sein damals bereits über 100 Schmuckblätter und Unterschriften umfassendes Stammbuch (Abb. 3) um weitere Einträge zu erweitern. So erhielt er z.B. Beiträge des sächsischen Oberhofpredigers Matthias Hoë von Hoënegg (1580-1645) sowie dessen Cousins und Protegés Hans Paul (1591-1658) und Hans Sigismund (1606-1632) von Wolzogen, die als Glaubensflüchtlinge nach Sachsen gekommen waren (Abb. 4 und 5).
Kurfürst Johann Georg I. selbst hatte Hainhofer schon zwölf Jahre zuvor einen Stammbuchbeitrag durch seinen Kammermaler Johann Fasold (ca. 1570–ca. 1619) versprochen. Er scheint aber nie ausgeführt worden zu sein. Beim Zusammentreffen 1629 führte Hainhofers Weg zum Erfolg vor allem über Kurfürstin Magdalena Sibylle (1586–1659): Sie lud ihn in ihr Kabinett ein, besah sich das Stammbuch und ließ sich von Hainhofer zu einem Eintrag und sogar zu einer Porträtsitzung durch den mitgereisten Lucas Kilian (1579–1637) überreden. Während das Porträt nachweisbar ist, scheint ihr Stammbucheintrag verloren zu sein. So zeugt heute allein die Doppelseite ihrer Söhne von Hainhofers Besuch bei der kurfürstlichen Familie. Diese luden ihn am 8. Oktober zum Essen zu sich, um das Stammbuch zu betrachten. Vielleicht wurde das Album bei dieser Gelegenheit sogar schon um das kleine Bildnis der vier schmucken Reiter erweitert.
Diese Entstehungsgeschichte ist nur eine von vielen, die sich hinter den heute erhaltenen 107 vor allem mit farbigen Miniaturen und Federzeichnungen verzierten Seiten von 94 Personen verbergen. Zusammen bilden sie einen kostbaren Schatz, der einen einzigartigen Einblick in das künstlerische, politisch-diplomatische und gesellschaftliche Wirken von Personennetzwerken im ersten Drittel des 17. Jahrhunderts gibt.
Das Große Stammbuch Philipp Hainhofers, das 2019 aus Privatbesitz für die Herzog August Bibliothek erworben wurde, wird derzeit im Rahmen eines Forschungsprojekts wissenschaftlich erschlossen und dann mit dessen Ergebnissen in seiner ganzen Schönheit als digitale Edition der Öffentlichkeit frei zugänglich gemacht.
PURL: http://diglib.hab.de/?link=112
Titelbild: Großes Stammbuch Philipp Hainhofers, HAB, Cod. Guelf. 355 Noviss. 8°, S. 95