26. März 2024

Die Bände hatten eine bewegte Geschichte hinter sich: Im Zuge der Bodenreform 1945/46 enteignet, wurden sie an die Stadtbibliothek Magdeburg übergeben, bis sie Anfang 2018 nach dem Ausgleichsleistungsgesetz restituiert wurden. Jeder Band weist deshalb einen Stempel der Stadtbibliothek Magdeburg sowie einen Aussonderungsstempel auf. Die von der HAB erworbene Sammlung umfasst 1245 Drucke in 14 Bänden (überwiegend schlichte Pappeinbände), wobei jeder einzelne Sammelband seinen Schwerpunkt hat, was die Druckorte, die Autoren oder die gefeierten Familien betrifft. Es sind Gelegenheitsschriften auf Geburtstage, Hochzeiten, Amtsantritte und Todesfälle aus dem Zeitraum 1605-1751. Von den 632 Titeln des 17. Jahrhunderts sind 431 bisher unbekannte Werke identifiziert und erstmals erschlossen worden. Für das 18. Jahrhundert sind es 408 unikale Drucke.

Schwerpunkte der Sammlung

Den Schwerpunkt eines Sammelbands bilden Schriften auf die Familien der Helmstedter Universitätsangehörigen: z.B. auf die Familie des Orientalisten Christoph Heinrich Rittmeier (1671-1719) oder auf den Professor für Anatomie, Chirurgie und Botanik Lorenz Heister (1683-1758). Die Schriften auf Heister waren bisher alle unbekannt. Die Familie von Alvensleben ist ebenfalls mit zahlreichen Gelegenheitsschriften prominent vertreten. Die größte Menge der Gelegenheitsschriften wurde in Bezug auf Todesfälle produziert. Darauf folgen Hochzeiten, Amtsantritte sowie Promotionen und Geburtstage.
In einem Band sind besonders viele Schriften auf die herzogliche Familie Braunschweig-Lüneburg zu entdecken, so etwa eine unbekannte Variante des Librettos „Ballet der Zeit“ (Abb. 1), das 1655 von Herzogin Sophie Elisabeth von Braunschweig-Lüneburg (1613-1676) anlässlich des Geburtstages ihres Ehegatten Herzog August von Braunschweig-Lüneburg (1579-1666) verfasst wurde.

https://www.hab.de/wp-content/uploads/2024/03/habblog-bovelandg-schulenburg-abb-1-scaled-335x640.jpg
Abb. 1 „Ballet der Zeit“, Titelblatt, HAB Wt 4 175.4 (8)

Die Kunst der Buchdrucker

Auffällig viele Druckereien aus der Region sind mit technisch aufwendigen Werken präsent. Zum Beispiel befindet sich ein mit Silber und Gold belegter Einblattdruck in der Sammlung, ein Sonett auf den Namenstag des Hofmeisters Jacob Freudemann, der vom fürstlichen Hofbuchdrucker Paul Weiß in Wolfenbüttel gedruckt wurde (HAB Wt 4° 175.1 (55)). Absolut herausragend ist ein vom Helmstedter Drucker Georg Wolfgang Hamm auf schwarz gestrichenem Papier in Weiß gedrucktes Gedicht auf den Tod eines seiner Kinder (HAB Wt 4° 175.2 (110)). Ein vergleichbarer Druck ist in der HAB nicht bekannt (Titelbild).

Kaspar von Stieler

Ein weiterer Sammelband birgt den größten Schatz dieser Sammlung: Er enthält Drucke aus dem Raum Leipzig, Jena und Erfurt, darunter 14 Drucke mit Texten von Kaspar von Stieler (1632-1707). Stieler, auch „Der Spate“ als Mitglied der Fruchtbringenden Gesellschaft genannt, war nicht nur Lyriker und bekannter Liederdichter, sondern auch Sprachwissenschaftler und hat das Wörterbuch „Der teutschen Sprache Stammbaum und Fortwachs“ (1691) verfasst, welches den deutschen Wortschatz seiner Zeit umfänglich repräsentiert. Von diesen Stieler-Drucken sind zwölf bibliographisch unbekannt und zwischen 1669 und 1689 in Jena, Erfurt, Gotha und Weimar erschienen. Es handelt sich um Gedichte auf Geburtstage, Amtsantritte, Hochzeiten („Anakreontische Spielreime“) sowie Schriften auf Personen aus Stielers Umfeld. Eine achtseitige Hochzeitschrift hat Stieler sogar mit seinen drei Söhnen gemeinsam verfasst. Die umfangreichste – und bisher unbekannte – Gelegenheitsschrift Stielers ist zum Tod des dreijährigen Wilhelm August von Sachsen-Eisenach (1668-1671) verfasst worden. Darin richtet er sich direkt an die trauernde Mutter, Herzogin Maria Elisabeth von Sachsen-Coburg, geb. Braunschweig-Lüneburg (1638-1687) (Abb. 2). Die Schrift umfasst ein 20-strophiges Trauergedicht, eine Trauerarie sowie zwei weitere Trauerlieder. Besonders markant sind zwei handschriftliche Korrekturen im ersten Gedicht. Ob sie von Stieler selbst stammen, konnte nicht geklärt werden.

https://www.hab.de/wp-content/uploads/2024/03/habblog-bovelandg-schulenburg-abb-2-scaled-382x640.jpg
Abb. 3 – Kaspar von Stieler: „Fürstliche Leich-Zypresse“, Textanfang, HAB Wt 4° 175.3 (5)

Lediglich zwei Zeilen des ersten Trauergedichts werden bereits in Stielers „Teutsche Sekretariatskunst“, Nürnberg 1673 als Beispiel für ein Stilmittel, den „Gleichhang“, zitiert.
Stieler, der zu Lebzeiten anscheinend nicht an einer Gesamtausgabe seiner verstreuten Kasualpoesie interessiert war, kann durch solche Fundstücke weiter entdeckt werden.

Der Sammler

Wer aus der Familie von der Schulenburg diese einzigartige Sammlung von Gelegenheitsschriften angelegt hat, beantworten uns die handschriftlichen Einträge, die in fast jedem Sammelband auf dem vorderen Buchspiegel zu lesen sind (Abb. 3). Es ist August Schönberg von der Schulenburg (1716-1772) aus Altenhausen, der 1732 an der Universität Helmstedt immatrikuliert wurde.

https://www.hab.de/wp-content/uploads/2024/03/habblog-bovelandg-schulenburg-abb-3-600x550.jpg
Abb. 3 - Handschriftlicher Eintrag mit Notiz zu den Buchbinderkosten: A[ugust] S[chönberg] v[on der] Schulenburg Helmstädt, den 5. September 1735 Inzubinden 4 ggl [gute Groschen], HAB Wt 4° 175.4

Als weiteres Lebensdokument existiert noch August Schönberg von der Schulenburgs Stammbuch, welches er von 1734 bis zu seinem Tod 1772 geführt hat und das sich heute im Besitz der ULB Halle befindet. Darin finden sich viele der Familiennamen wieder, die auch in den Gelegenheitsschriften vorkommen. Es darf deshalb spekuliert werden, ob der Sammler die Drucke über sein Bekanntschaftsnetzwerk bekommen hat.

In einer Publikation zur Geschichte der Schulenburgs von 1847 wird August Schönberg von der Schulenburg als „blödsinnig“ bezeichnet. Wie eine solche Aussage aus dem 19. Jahrhundert heute überhaupt einzuordnen ist, bleibt offen – einer der letzten Einträge im Stammbuch scheint ein anderes Licht auf ihn zu werfen. Kurz vor seinem Tod schreibt Dorothea Christiane Ehrengard Gräfin von Schulenburg, geb. Schenk (1741-1823) am 3. Januar 1772: „Plus être que paraître“ – Mehr Sein als Schein, was in jeden Fall auf seine Sammlung zutrifft!


Titelbild: Einblattdruck „Die Unvermeidliche Todes-Stunde“, HAB Wt 4° 175.2 (110)